Das tragende Prinzip von Menschen in Gemeinschaften ist heutzutage nicht mehr die Religion, die Moral oder irgendeine Ethik. Es ist die Wette.

Zum Charakter der Wette gehört, dass es mindestens zwei Wett-Teilnehmer gibt, die entgegengesetzte Auffassungen über einen Sachverhalt haben. Beide sind allerdings von der Zuversicht getragen, Recht zu haben. Jeder hält also den anderen Wettenden für einen, der einem Irrtum unterlegen ist. Im Umkehrschluss hält man sich selbst für den Schlauen, den Wissenden, denn sonst würde man die Wette nicht eingehen.

Eine Wette, von der man von Anfang an weiß, dass man sie verlieren wird, ist doof. Nein, noch trauriger: Sie wäre nicht einmal eine Wette. Es wäre Selbstverleugnung, Selbstzustörung.

Schauen wir uns mal um, wo Menschen wetten:

Der, der im Supermarkt einen Deostift klaut, wettet gegen den Ladendetektiv und die Sicherheitseinrichtungen: „Ich bin so geschickt, dass man mich nicht erwischt.“

Wer als Autofahrer statt der vorgeschriebenen 80 Stundenkilometer 120 Km/h fährt, wettet gegen Polizisten mit Radarmessgeräten. „Heute steht da niemand.“

Wer als Mann, also als richtiger Mann, jemandem droht: „Dann haue ich dir eine rein“, wettet darauf, dass der andere Angst hat. Nur blöd, wenn es aber ein seit Jahrzehnten trainierender Kickboxer ist.

Herr zu Guttenberg wettete, dass niemand seine Plagiate entdeckt. Jetzt stellt sich raus, dass er sogar Fußnoten aus einer Veröffentlichung seines Doktorvaters abgeschrieben hat. Er schob dann gleich noch eine Wette hinterher: „Das habe ich nicht mit Absicht getan.“ Preisfrage: Gegen wen oder was wettet er jetzt? Richtig, gegen unsere Gutgläubigkeit und Blödheit. Tja, Pech gehabt, Wette verloren.

Hausaufgabe: Wo wetten Sie im täglichen Leben? Und wenn ja, gegen wen?

Öffnen wir den Kreis: Der Unternehmer, der Schwarzarbeiter beschäftigt, wettet gegen die Zollbeamten. Die Politiker, die uns mit unhaltbaren Wahlversprechen kommen, wetten auf unsere Vergesslichkeit. Die Kriminellen wetten auf die Unfähigkeit, Trägheit und Tatenlosigkeit von Mitmenschen, Polizisten, Ermittlungsbeamten und Richtern. „Mich erwischt keiner.“

Solange die Wetten oft genug gewonnen werden, wird niemand seine Handlungsweise ändern.

Die Machthaber in Tunesien und Ägypten haben viele Jahre gegen das Volk gewettet und gewonnen. Jetzt haben sie verloren. Wird Gaddafi die Wette gewinnen? Gegen sein Volk, gegen die Arabische Liga, gegen den Westen?

Wie wetten die Machthaber in China zurzeit? Noch gewinnen sie die Wetten. Zu welchem Preis?

Welche unsäglichen Wetten haben die Betreiber der japanischen Kernkraftwerke gemacht, als sie jahrelang Reparaturberichte usw. fälschten? Welche Wette machen überhaupt Kernkraftbetreiber? Ist eine Wette gegen die Halbwertzeit von Uran überhaupt sozial verantwortbar?

Welche Wette machen Banker, die mit Aktien und anderen Finanzprodukten ihr Geld verdienen, also mit Wetten? Zehntausende amerikanische Häuslebesitzer wetteten darauf, niemals ihren Job zu verlieren. Sie wetteten auf unendliche wirtschaftliche Wachstumsperioden. Und diese Wetten wurden kombiniert mit anderen Wetten und nochmals anderen Wetten. Ein ungeheures Wettnetzwerk – und alle Beteiligten lebten von der Illusion, sie seien die Schlauen und also auf der sicheren Seite.

Aber der Charakter der Wette ist, dass es einen Gewinnen und einen Verlierer gibt. Niemals nur Gewinner – NIEMALS. Kapiert?

Die schlimmsten Wetten sind die gegen die Naturgewalten: Wohnsiedlungen in Überschwemmungsgebieten: „Seit zehn Jahren ist hier nichts passiert.“ Monokultur und Kunstdünger in der Landwirtschaft: „Wir haben das im Griff.“ Begradigte Flüsse werden niemals über die Ufer treten, hohe Deiche helfen gegen einen Tsunami, Vergiftung der Umwelt baut sich rückstandslos ab, Tiefseebohrungen nach Erdöl sind technisch ausgereift.

Schlagen Sie jetzt bitte die Zeitung auf und durchforsten Sie die Artikel nach offenen und versteckten Wetten. Wenn Ihnen dabei schlecht wird, tut es mir leid – oder auch nicht.