Das Leben schreibt wunderliche Geschichten, die besser nicht erfunden werden sollten, weil sie viel zu künstlich wirken. Das im Prinzip willkürliche Zeitscharnier Silvester zu Neujahr lieferte mir solch eine Geschichte, deren Titel „Kleiner Junge wurde bedroht“ zwar nicht wirklich richtig ist, aber irgendwie doch. Auf jeden Fall hat sie mich nachdenklich gemacht. Weshalb?

Silvesternachmittag war Hund- und Joggingzeit. Die Wege auf dem Gothaer Krahnberg – einem ehemaligen Militärgelände und inzwischen Wald- und Erholungsgebiet – sind nass und schlammig. Plötzlich Motorengeknatter von hinten. Ein Quad- und ein Motocrossfahrer rasen auf mich zu. Mit Handzeichen bitte ich um Geschwindigkeitsdrosselung. Als sie an mir vorbeifahren, sage ich: „Das ist aber ziemlich illegal, hier zu fahren.“

Sofort halten beide an, der Motorradfahrer steigt ab, schreit mich hysterisch an, wo das stehen würde und drängt mich vom Weg. Er schreit seine Frage ein paar Mal.

„Im Thüringer Waldgesetz“, ist meine ruhige Antwort.

Wo hier der Wald sei, schreit er und drängelt weiter, den drohenden Zeigefinger vor meinem Gesicht fuchtelnd. „Das tut richtig weh“, schreit er mich an und meint, dass er mich verprügeln würde. Und dann wieder: „Das tut richtig weh.“ Ungefähr fünfmal schreit er das. Sein Quadkollege hält sich raus. Und immer noch der Zeigefinger vor meinem Gesicht.

Erst hatte ich versucht, zu deeskalieren, Abstand zu schaffen, Überblick zu gewinnen. Ich hatte keine Lust auf echten Zoff. Auch wenn ich gestehen muss, dass mich sein Zeigefinger sehr einlud, ihn schnell zu packen und kräftig zu verbiegen. Ausführungsdauer maximal 1 Sekunde, Wirkung mindestens 4 Wochen. Ich tat es nicht – leider? Es wäre sicher als Notwehr gewertet worden.

Interessant für mich war, was in mir selbst geschieht. Panik? Hilflosigkeit? Angst? Würde mir mein Kampfsporttraining irgendetwas nützen? Ich war überrascht, wie locker ich war, auch wenn ich hinterher bemerkte, ein paar Fehler gemacht zu haben. Das ganze dauerte vielleicht 20 oder 30 Sekunden. Plötzlich war ich es leid. Ich erinnerte mich an einen Satz meines Kampfsportfreundes und Trainers Christian Schwäblein: „Du musst ein Krieger sein.“ Das ist eine andere innere Haltung als der Normalzustand: So nicht! Ich starrte dem Behelmten hart in die Augen, vielleicht zwei oder drei Sekunden. Dann ging er weg. Sein Motorrad hatte natürlich kein Nummernschild.

Der Versuchung, den Helden zu spielen, hatte ich widerstanden. Der junge Motorradfahrer war so erregt, dass er mit Sicherheit nicht mit Gegenwehr von mir gerechnet hätte. Wusste er, dass ein schneller Dreh und Ruck an seinem Helm ihn ins Jenseits befördern kann? Wäre ihm ein gebrochener Zeigefinger lieb gewesen?

Hätte ich danach zur Polizei gehen sollen? „Die machen sowieso nichts gegen die Motocrossfahrer, die jedes Wochenende dort herumkurven“, sagte mir ein befreundeter Jäger. Hätte ich also meinen Mund halten sollen, zur Seite treten und sie davonfahren lassen? Warum passierte mir diese Geschichte am letzten Tag des Jahres?

Meine Belohnung – für was eigentlich? – ließ nicht lange auf sich warten.

Das neue Jahr hatte gerade begonnen, um uns krachten Böller und Raketen. Wir standen mit Freunden und Nachbarn zusammen und wünschten uns Glück und alles Gute. Da nahm mich ein liebenswerter Nachbar zur Seite und erzählte, wie er vor zwei Tagen mit seinem in der Tat auffälligen Auto am Gothaer Schlosspark entlanggefahren sei. „Ein kleiner Junge mit großkarierter grüner Jacke und tief ins Gesicht gezogener Mütze hat mir zugewunken“, erzählte er. „Warum winkt er mir?“ habe er seine Frau gefragt. „Kenne ich den?“

Seine Frau aber habe nur schallend gelacht. „Mit diesem kleinen Jungen hast du kürzlich seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert.“

Der kleine Junge, der von einem Motocrossfahrer bedroht worden war. Interessanter als mit dieser Geschichte hätte mein neues Jahr gar nicht anfangen können.

 

P.S.: Ein technisch begabter Freund sagte mir, bei einer Anzeige hätte die Polizei die beiden Fahrer leicht ausfindig machen können. Da sie sicherlich Handys bei sich haben, könnte man meine GPS-Position mit allen Handys abgleichen, die sich zu dieser Zeit dort befunden haben. Wenn man dann noch schaut, welche beiden Handys in dieser Zeit immer zusammen in einer Funkzelle auftauchen, wäre eine Identifikation sehr einfach. 

Das sind die Angaben, vielleicht kommt jemand damit weiter:

Meine Laufstrecke am Silvesternachmittag in Gotha.

Meine Laufstrecke am Silvesternachmittag in Gotha.

In der Detailansicht sieht man, wie ich den geraden Weg verlasse. Die Details sind aufgrund der GPS-Aufzeichnung genau nachzuvollziehen. 

Der Ort der Bedrängnis auf dem Gothaer Krahnberg.

Der Ort der Bedrängnis auf dem Gothaer Krahnberg.