Nur drei Gäste sitzen an einem Tisch, als wir die kleine Gaststube der Hagner-Alm in Südtirol betreten. Es ist später Vormittag, leichter Nieselregen, die Berge wolkenverhangen. Kein Wanderwetter, was uns nicht stört.

Wir sitzen kaum, als wir die klare, einen Führungsanspruch fordernde Stimme eines Mannes hören, der mit ruhiger Schärfe die Partnerschaften seiner Kollegen und Bekannten analysiert. Er gehört zu dieser Dreiergruppe und scheint seinen beiden Gesprächspartnern die Welt zu erklären, insbesondere deren menschliche Niederungen. Bis hierhin ist das alles nichts Besonderes. Dann schauen wir genauer hin – und können es auch nicht verhindern, an dem Gespräch hörend teilzunehmen.

Der Sprecher ist ein junger Bursche, vermutlich Anfang zwanzig. Er sitzt mit seinen Eltern am Tisch, die sich wortlos an einem Getränk festhalten. Nur gelegentlich kommt eine Bemerkung vom Vater, die aber beim Sohn keinerlei Unterbrechung seines Rede- und Erklärungsstroms auslöst. Er weiß alles über die Welt und ganz besonders über zum Scheitern verurteilte Partnerschaften, Beweggründe für Beziehungsaufbau und die Motive, die Menschen zueinandertreiben.

Als alles angemessen durchgehechelt worden ist, setzt er zur ultimativen Erklärung an: In Wahrheit liege allen Beziehungen ein biologisches Prinzip zugrunde. Der Mann suche sich diejenige Partnerin, mit der er bestmöglich seine Gene weitergeben könne, um die Art zu erhalten. Alles andere wie Liebe, Zuneigung und solche irrationalen Sachen seien eine moderne Verunklärung der Biologie.

Seine Eltern sitzen da und schweigen.

Was hat dieser Typ eigentlich gerade getan? Er redet über andere Menschen und bemerkt offenbar gar nicht, dass auch er das Ziel seiner Ausführungen ist. Seine schweigenden Eltern und er selbst sind der lebende Beweis, dass die Partnerwahl zur optimalen Zucht von Nachwuchs, also Genweitergabe, offenbar gelungen ist. Er, der junge Mann, wäre dennoch nicht mehr als das Ergebnis dieser Selektion. Jeder Anspruch auf Individualität muss hinter dem biologischen Optimierungsprozess zurückstehen. Der einzige Zweck des jungen Mannes ist es, Gene seiner Eltern aufzunehmen und es dann der weiteren Evolution zu überlassen, ob dieser Vorgang erfolgreich bleibt – wovon er sicherlich ausgeht – oder evolutionstechnisch eines Tages ausgesondert wird. Dabei wird es in seiner Zukunft wichtig sein, ob es ihm gelingt, die passende Zuchtpartnerin zu finden, sie zur Kopulation zu bewegen und Genreproduktion erfolgreich zu realisieren. Wir etwas romantischer veranlagten Wesen würden das „ein Baby bekommen“ nennen.

Kann eigentlich ein nur auf biologische Zweckerfüllung abgestelltes Zuchtsystem Interesse haben, Nachkommen hervorzubringen, die derartig zynisch-selbstblind Partnerschaftsverhältnisse beobachten, beschreiben und erklären? Wäre es nicht viel „gesünder“, jede Reflexionsmöglichkeit oder gar Wahlfreiheit des Einzelmenschen zu unterbinden, um die Genoptimierung nicht durch willkürliche Entscheidungen zu stören?

Wenn die Sache mit dieser Biologie und der Optimierung stimmte, weshalb hat dann der Mensch die Möglichkeit der Selbstreflexion entwickelt, das Denken, die Philosophie, die Literatur, die Kunst? Die Technik? Die Möglichkeit der Selbstvernichtung? Die Cappuccinomaschine, die diesem jungen Kerl das stärkende Getränk zubereitete, das er benutzte, um seinen Eltern nach einer wie weiten Wanderung auch immer die Welt zu erklären? Brauchte es diese Wanderung? Ist sie nicht doch irgendwie Kräfteverschwendung? Hält sie ihn nicht geradezu davon ab, möglichst rasch eine genoptimierende Partnerin ausfindig zu machen? Oder hat sein biologisches System ihm vermittelt, dass junge Männer in Begleitung ihrer Eltern in den Bergen zuchtoptimierte Zustände erzeugen?

Fragen über Fragen. Bleibt nur noch zu klären: Woran erkenne ich „Optimierung“. Reicht „Überlebensfähigkeit“ dafür aus? Dann würden sich alle komplexeren Weltgestaltungen erübrigen. Eine etwas komfortablere Höhle sollte uns genügen.

Oder ist der Mensch bereits das Endergebnis der Evolution und folglich selbst nicht mehr Teil dieser? Haben wir einen Endpunkt erreicht, der uns zum Herrn über Flora und Fauna werden lässt? Oder sogar über uns selbst? Wäre dann Arterhaltung noch gefordert? Oder sollten wir uns mit der ewigen Langeweile maximaloptimierter Systeme zufriedengeben?

Dass wir demnächst nicht zum Herrn der Berge und Gebirge werden, dürfte jedem Bergwanderer eindrücklich erlebbar sein, der sich über Pässe quält oder durch Felsen klettert. Berge wären somit ein schön schroffes Zeichen, dass wir noch etwas vor uns haben.

Ich hätte den jungen Typ doch nicht grußlos gehen lassen sollen. Sicherlich hätte er mir alle meine Fragen beantworten können. Einfach genug war seine Welt dafür.

 

P.S.: Und wie ist das mit diesem kleinen Text? Wird er evolutionstechnisch überdauern und dadurch seine und folglich auch meine eigene Zweckhaftigkeit beweisen können? Zurzeit ist das noch eine Hoffnung, wenn auch keine überlebenswichtige oder gar arterhaltende. Habe ich mich damit widerlegt? Oder die Biologie? Oder alles?