Durchgeführt wurde eine Befragung von Schülern mit Migrationshintergrund, zu sehen in einem Video, das auch auf Facebook geteilt wurde (ich weiß leider nicht mehr, wo es war). Die jungen Männer, ich schätze ihr Alter auf ungefähr sechzehn, wurden befragt, wie sie zum Grundgesetz stünden und wie sie die Rechte der Frauen sähen. Die Antwort war eindeutig: Nein, das Grundgesetz würden sie nicht anerkennen. Frauen und Männer seien nicht gleichberechtigt. Frauen hätten zu tun, was die Männer ihnen sagen. Die Empörung darüber war groß.

Aber mal ehrlich: Warum eigentlich?

Meine Irritation bezieht sich nicht auf die Antwort, sondern auf die Frage. Natürlich steht für mich außer Zweifel, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Von daher habe auch ich Schwierigkeiten mit der Antwort.

Was aber völlig unter den Tisch fällt, ist die Tatsache, dass es ziemlich egal ist, ob jemand glaubt, das Grundgesetz könne er anerkennen oder nicht. Wer sich im sogenannten Geltungsbereich des Grundgesetzes aufhält, also in Deutschland, kann sich darauf berufen bzw. muss sich ihm unterwerfen. Die Gültigkeit des Grundgesetzes hat überhaupt nichts mit meiner Meinung über dieses Gesetz zu tun. Es gilt, weil ich auf deutschem Boden stehe.

Die „Reichsbürger“, die innerhalb Deutschlands rechtsfreie Räume ausrufen, eigene Staaten gründen, eigene Gesetze machen, eigene Formulare, Dokumente und Pässe entwerfen, tun das, weil sie glauben, sie könnten durch persönliche Entscheidungen den Geltungsraum des Grundgesetzes verlassen. Doch weit gefehlt. Deren Dokumente unterscheiden sich durch nichts von den selbstgebastelten Ausweisen, die sich siebenjährige Kinder mit ihren Buntstiften malen, weil sie auch einen Pass haben wollen wie ihre Eltern. Es sind Spielzeuge. Mehr nicht.

Wenn Menschen, wie kürzlich auch in Chemnitz, auf der Straße schreien: „Deutschland den Deutschen“, dann wollen sie damit etwas bewirken, was sie gefühlsmäßig für richtig erachten. Doch halt! So sehr ich Gefühle von Menschen respektiere, das Gefühl spielt dabei keine Rolle. Das Grundgesetz besagt ausdrücklich – jedenfalls bei den sogenannten Jedermannsrechten –, dass es nicht nur für Deutsche gilt, sondern für alle, die sich hier aufhalten. Deutschland gehört nämlich überhaupt niemandem. Deutschland kann man nicht besitzen. Man kann es nicht kaufen oder verkaufen. Deutschland existiert, weil es das Grundgesetz gibt und eine ganze Reihe anderer Dinge mehr. In Deutschland kann man sich aufhalten. Man kann auch ein Grundstück in Deutschland kaufen, aber nicht Deutschland selbst.

Wenn irgendein Schüler – seine Herkunft ist völlig gleichgültig – meint, er könne das Grundgesetz ablehnen, dann ist das nur seine persönliche Meinung. Mehr nicht. Sie hat keinerlei Wirkung. Sie fällt unter das Recht der Meinungsfreiheit. Und ich habe das Recht, diese Meinung abzulehnen, dem Schüler nicht mehr zuzuhören oder einfach wegzugehen. Sich über diese Meinung aufzuregen, ist komplett sinnlos. Man sollte dem Schüler lieber das Grundgesetz erklären.

Wenn irgendein Mann seine Frau unterdrückt – oder auch umgekehrt –, dann hat der Unterdrückte das Recht, Gleichheit wieder herstellen zu lassen. Artikel 3, Absatz 2 des GG: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Rechtsanwälte können dann nachsehen, welche Gesetze missachtet wurden und darauf hinwirken, dass das entsprechende Unrecht beseitigt wird. Gerichte prüfen das und kommen zu einem Ergebnis, zum Beispiel in Form eines Urteils.

Wo ist also das Problem?

Das Problem besteht darin, dass Menschen heute vermehrt dem Staat nicht mehr zutrauen, in jedem Fall die Rechte durchsetzen zu können oder gar zu wollen, die wir haben und die unser Zusammenleben auf den verschiedensten Ebenen regeln. Sie erleben rechtsfreie Räume, weil sie niemanden sehen, der für die Durchsetzung des Rechts sorgt.

Die falsche Schlussfolgerung daraus ist: Also habe ich das Recht, selbst diesen von mir rechtsfrei angenommenen Raum mit meinem „gefühlten Recht“ zu füllen. Das nennt man Selbstjustiz. Die ist jedoch aus Sicht des Rechtsstaats komplett verboten.

Wir brauchen also einen Staat, der konsequent, zügig und sichtbar genau die Rechte durchsetzt, die wir uns gegeben haben. Dabei ist völlig egal, wer diese Rechte bricht. Sie gelten für alle, die sich hier aufhalten: für Deutsche, für Nichtdeutsche, für Parteilose, für Parteianhänger, für Ewiggestrige, für Fortschrittsgläubige, für Nazis, für Kommunisten, für Liberale, für Beleidigte, für Wütende, für Bekloppte, für Schlaumeier, für Weißhaarige, für Schwarzhaarige, für Gefärbthaarige, für die kleinen Leute, für die Superreichen, für Menschen mit und ohne Beruf, für Bettler, Reisende, Touristen, Einheimische – für alle.

Eigentlich ganz einfach.

 

P.S.: Ich bin kein Jurist. Aber vielleicht hat ein Jurist Lust, hier etwas dazu zu sagen.