Normalerweise entziehe ich mich der Werbung im Fernsehen konsequent. Aber gestern war es anders. An die Bilder des Werbeclips kann ich mich nicht mehr erinnern, denn ein Satz fesselte meine Aufmerksamkeit: „Die rationalste Art, Emotionen zu zeigen.“ Damit wurde irgendein Modell der Automarke Hyundai beworben. Aber das war für mein Erstaunen völlig belanglos.
Ein einziges Wort hatte mich elektrisiert: rationalste. Was will der Künstler damit sagen?
Nur ein wahrer Denk-Künstler kann zu diesem Wort finden. Bis gestern dachte ich nämlich in meiner alltäglichen Einfalt, dass das Wort rational überhaupt nicht gesteigert werden könne. Es war für mich so etwas wie ein absoluter Begriff. Absolut, weil ich vielleicht den Fehler machte, es in seiner philosophischen Bedeutung zu hören. Es stammt ab vom Wort ratio. Die ratio ist die Vernunft oder auch der Erkenntnis-Grund.
Und damit sind wir beim deutschen Philosophen Gottfried Wilhelm von Leibniz, der im 17. Jahrhundert und also in der Morgendämmerung der Aufklärung schrieb: Nihil est sine ratione = Nichts ist ohne Grund. Er hat damit ungefähr das gemeint: Nichts auf dieser Welt ist einfach nur so da. Der Volksmund sagt dazu: Von nichts kommt nichts. Oder positiv gewendet: Alles, was uns in dieser Welt begegnet, hat eine Geschichte, ist irgendwie entstanden, gewachsen, geschaffen worden.
Sind Sie noch da? Ich meine: Lesen Sie noch? Ich habe Sie nicht vergessen.
Kommen wir zurück zur Werbung. Ich weiß natürlich, dass es viel schlauer gewesen wäre, wenn die Werbeagentur formuliert hätte: „Die vernünftigste Art …“. Aber das hat sie nicht. Sie hat gesagt: „Die rationalste Art“.
Das kann doch nichts anderes bedeuten, als folgendes: Rational meint, dass etwas über seinen Erkenntnisgrund Auskunft geben kann. Man kann es begründen. Rationaler als das ist es, wenn man den Erkenntnisgrund selbst auf etwas noch Umfassenderes zurückführen kann, das aber nun nicht nach dem Prinzip des Vernünftigen, des Erkenntnisbegründenden gestaltet sein darf, denn sonst wäre es ja nur rational.
Sind Sie noch dabei? Ich frag ja nur vorsichtshalber.
Was aber begründet den Erkenntnisgrund, ohne selbst wieder ein Erkenntnisgrund zu sein? Die Emotion? Nein, natürlich nicht. Emotionen sind bloß eine Folge des Rationalsten.
Aber was dann ist das Rationalste? Es kann nicht ein Etwas sein. Es muss mehr oder vielmehr weniger als das Etwas sein. Oder ganz anders. Es kann nur Nichts sein. Wenn das stimmte, dann hieße der Satz des Volksmunds (siehe oben): Von Nichts kommt etwas. Oder um Leibniz gleich mit zu retten: Nur das Nichts ist ohne Grund, also ohne Herkunft, ohne Werden. Ein geistiger Urknall.
Dieses Etwas könnte auch eine Emotion sein. Emotionen wären dann das, was aus einem Nichts kommt und sich dennoch auf ein Etwas beziehen kann. Zauberhaft.
Sind Sie noch da? Ich hoffe, Sie verstehen jetzt: Das ist asiatisches Denken pur. Dieser kleine dahingesagte Satz enthält eine universale Denkgeschichte. Er verbindet Ost und West, Aufklärung und Moderne, ratio und emotio. Man muss ihn nur ein wenig mit dem Urknallblitz beleuchten.
Das Problem dabei: Die Werbeagentur dachte, dass Emotionen immer etwas Positives, etwas Schönes seien. Aber Emotionen sind ein Sachverhalt, der erst einmal wertungsfrei ist. Erst wenn ich meine Gefühle mit etwas in Beziehung bringe, erkenne ich ihre jeweilige Eigenschaft: angenehm, schrecklich, leidenschaftlich, langweilig und so weiter.
Welches Gefühl verbindet sich mit einem Auto? Das Auto: in Blech gepresste Langeweile? Ist doch wahr, oder? Egal, das Problem bleibt, weil nur ich selbst ein Gefühl haben und dann auch äußern kann. Ich kann, während ich das Gefühl habe, auf ein Auto zeigen und sagen: „Dieses Auto entspricht in der gegenständlichen Welt dem, was ich als Gefühl in mir trage.“
Doch was nützt das dem, dem ich das sage? Gar nichts. Oder genauer: Nichts. Meine Emotion, so haben wir oben gesehen, kam ja aus dem Nichts, aus dem Rationalsten. Wenn ich ein Nichts mit einem Etwas, also zum Beispiel einem Auto, verbinde, dann habe ich in Wahrheit das Auto vernichtet, oder genauer geschrieben: ver-Nicht-et. Ich habe es zu Nichts gemacht. Wer ans Rechnen denkt, versteht das sofort: Null mal 753 ist Null.
Wollte das die Werbeagentur sagen? Ist dieser Satz vielleicht nichts anderes als eine höchst feinsinnige Konsumkritik, versteckt in einem harmlos daherkommenden Werbeclip? Ist er ein Wolf im Schafspelz? Hat dafür die Firma Hyundai die Werbeagentur bezahlt?
Ich hoffe es. Denn dann wäre der Satz wahrlich intelligent.