Wie gut, dass ich keine akademische Rezension schreiben muss, sondern von Leseeindrücken berichten kann. Das Buch der Professorin Heidi Helmhold „Affektpolitik und Raum. Zu einer Architektur des Textilen“ (Verlag der Buchhandlung Walter König. Köln 2012. 246 Seiten, 18 Euro) ist selbstverständlich ein wissenschaftliches, was es für normales Lesen anfangs etwas beschwerlich machen könnte. Darum lasse ich mich an dieser Stelle zum Schulmeistern verleiten und sage: „Durchhalten, Jungs und Mädels. Es lohnt sich. Ein wenig Anstrengung hat noch niemandem geschadet.“

Für mich sind Bücher spannend, wenn sie meinen Blick auf die Welt verwandeln. Wenn sie mir einen neuen Sinn öffnen für das, was sich mir als bislang Selbstverständliches entziehen konnte.

Umschlag des Buches

Was ist die Hauptthese dieses Buches, so wie ich sie mir erlesen habe? Die Entwicklung der modernen Architektur, wie sie zu Beginn des letzten Jahrhunderts und insbesondere mit dem Bauhaus begann, hat den Menschen ausgesondert aus den Bauten, in denen er leben soll. Doch wie zum Trotz unterläuft er die Tendenz zur nüchternen Konstruiertheit, indem er eigenwillig und eigenmächtig und nicht selten gegen den Willen des Architekten weiche Materialien in die harten Räume einbringt. Das können Teppiche, Vorhänge, Kissen oder bestimmte Möbel sein. Die textilen Materialien reagieren auf ihre Benutzer: Kissen sind geknüllt, Betten zeigen die Spuren ihrer Benutzung, Kleidung liegt in so genannter Unordnung herum. Heidi Helmhold nennt das Reagibilität. Die Textilien antworten ihrem Benutzer. Im Gegensatz dazu die gebauten Wände aus Beton. Sie sind da. Mehr oder weniger für alle Zeiten.

Wenn man diese Einsicht in die Textilität einmal gewonnen hat, kann man selbst schnell wach werden für solche Verhältnisse. Schroffe Felsen ziehen geradezu magisch Pflanzen an, die mit Moosen, Gräsern und Bäumchen die harten Kanten überspielen und mildern. Bewuchs als textiles Phänomen.

Menschen stülpen Textiles aus ihren Häusern heraus: Plötzlich fällt mir die Hausfassade auf, deren Balkone über und über bekleidet sind. Die Bewohner hatten wohl Waschtag und verwandelten die nüchterne Regelmäßigkeit in bunte Vielfalt.

Doch Heidi Helmhold geht dem Textilen noch viel intensiver nach. Das für mich eindrücklichste Kapitel beschreibt den Umgang der Fußballfans mit Textilem und wie sie damit eigene Räume, ja so etwas wie eigene Häuser erbauen. Zugegeben, diese sind nicht von langem Bestand, aber haben Charakter, werden intensiv belebt und geben den Menschen, also den Fans, Schutz und Halt.

Geradezu lustig-philosophisch wird es, wenn H. Helmhold das Fußballspiel selbst mit diesem textilen Blick analysiert. Die Beschreibung des Torraums mit seinem biegeschlaffen (was für ein herrliches Wort!) Tor ist einfach nur genial. Das kann aber wohl nur deshalb gelingen, weil Heidi Helmhold selbst kein Fußballfan ist, auch wenn sie beschreibt, wie sie einmal in einem der Vorortzüge von Dortmund für ein paar Stationen lang Teil dieses textilen Fankörpers geworden ist. Allen Lesern und ganz besonders den Fußball-Affinen sei dieses Kapitel hiermit nachdrücklich empfohlen.

Doch dem Thema sind auch sehr ernste Aspekte zueigen. „Strafende Räume“ sind solche, in denen nicht nur ein Verurteilter seine Haftzeit zubringen muss. Vielmehr ist die Textillosigkeit dieser Räume selbst eine Bestrafung. Jedes Anheimelige, Kuschelige, Weiche ist in ihnen untersagt. Die „Faltenlosigkeit des deutschen Strafsystems“, wie Heidi Helmhold beschreibt, zieht sich konsequent durch den gesamten Bestrafungsprozess: von der Sträflingskleidung über die Zellengestaltung bis hin zu den fehlenden Rückzugsräumen und der ununterbrochenen Beobachtungsmöglichkeit der Inhaftierten. Diese bedrückende Analyse macht unversehens deutlich, wie stark Textilität soziales Leben prägt – oder auch nicht, wenn sie nicht zugelassen wird.

Private Räume, Liebesarchitekturen und erste und letzte Räume sind drei weitere große Bereiche der Affektpolitik, also der gestalteten Wirkung von Raum.

Für wen ist dieses Buch? Natürlich für die Fachleute aus den Bereichen Architektur, Kunst, Politik und soziales Leben. Doch werden sie Lust haben, sich ihren Blick erweitern zu lassen? Freuen würde es mich, doch ich glaube nicht daran. Ist es doch viel bequemer, in seinen Denkzellen zu verharren und die Vorhänge geschlossen zu lassen.

Doch wer aufgeschlossen ist für eine ruhige, sprachvirtuose Darstellung in wissenschaftlichem Kleide, der wird diese „Affektpolitik“ genüsslich konsumieren, wird sich zum Lesen ins eigene Lotterbett zurückziehen oder die harte Küchenbank nehmen. Ich habe die meisten Teile des Buches in der Enge der Economy-class eines Lufthansafliegers gelesen. Vielleicht sollte die Affektpolitik dieser Flugzeugsitze mal genauer analysiert werden.

Was wünsche ich mir? Dass aus den vielen Beschreibungen und Reflexionen in diesem Buch ein zweites wird, aber jetzt prall gefüllt mit Bildern. Das wäre ein Augenschmaus mit Erkenntnisgewinn.

Direktlink zum Buch:
http://www.amazon.de/Heidi-Helmhold-Affektpolitik-Raum-Architektur/dp/3865606776/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1346959173&sr=8-1