Was gibt Gemeinschaften Stabilität? Unter Gemeinschaften verstehe ich in erster Linie religiöse und politische Gruppen, aber auch Sekten oder sich lose zusammenfindende Gruppen, wie sie durch Moden gebildet werden. Dabei ist es meistens nicht wichtig, dass sich die Mitglieder dieser Gemeinschaft alle kennen oder gar verabreden.
Meine These: Gemeinschaften geben sich dadurch Stabilität, dass sie Gehorsam von ihren Mitgliedern verlangen. Um dies nach außen hin zu dokumentieren, bedarf es eines Opfers.
Jeder, der japanische Krimis kennt, weiß, dass die Aufnahme in den erlauchten Kreis der Yakuza dadurch dokumentiert wird, dass man sich das letzte Glied des kleinen Fingers abschneidet. Von diesem Moment an ist man unwiderruflich gezeichnet – es sei denn, man schneidet sich die ganze Hand ab. Wer das Fingerglied opfert, hat sich der Gruppe unterstellt, akzeptiert deren Vorschriften und Befehle.
In einigen Religionen müssen die kleinen Jungs ihre Vorhaut opfern, damit sie Teil der Glaubensgemeinschaft werden. In manchen afrikanischen Ländern wird den Mädchen in einer grausigen Prozedur die Klitoris verstümmelt – geopfert einem Ritus, der sie in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufnimmt. Ich spreche hier nicht über moralische oder juristische Fragen, mir geht es um das Prinzip „Gehorsam“ und wie Gemeinschaften sich den Gehorsam ihrer Mitglieder versichern.
Ohne Opfer geht gar nichts. Das Opfer ist die Eintrittskarte in die Gemeinschaft. Das Opfern muss schwerfallen, muss eine Entbehrung sein. Aus einem Überfluss heraus etwas wegzugeben, ist kein Opfer, sondern vielleicht Barmherzigkeit. Je größer das Opfer, umso sicherer der Gehorsam. Warum? Weil man wenigstens etwas „davon haben will“, wenn man schon etwas weggibt.
Der jugendliche Punker opfert seine Haare und seine ehemals heilen Jeans, damit er Teil der Punkbewegung wird. Manche Frauen opfern ihre Gesundheit, indem sie sich Brüste vergrößern lassen und Botox spritzen, um in die Gemeinschaft der Schönen und Reichen aufgenommen zu werden. Dafür opfert der Mann seine finanzielle Flexibilität und kauft sich den Supersportwagen. Wer dauerhaft in der neuen Gemeinschaft mitspielen will, muss ihren Regeln gehorchen. Wer wieder VW Polo fährt, fliegt raus.
Der Umgang mit Haaren spielt in vielen Gruppierungen eine prägende Rolle. Spezielle Haartrachten, gekräuselte Koteletten, geschorene Köpfe (Glatzen), lange Zöpfe, ungeschorene Bärte. Die Amishen in Amerika haben vor einiger Zeit Aufsehen erregt, weil ein Hardliner einigen sogenannten Abweichlern gewaltsam die Bärte scheren ließ. Sie waren wohl nicht würdig, als Teil der Amish-Gemeinde angesehen zu werden, weil sie nicht gehorchten. Sie alle opfern ihren Handlungsspielraum, und sei es auch nur die Entscheidung, wann man zum Frisör geht.
Aber auch die richtige Bekleidung ist ein Opfersignal. Das fängt mit den militärischen Uniformen an, für die man seine zivile Kleidung opfern muss. Es geht weiter mit religiös begründeten Bekleidungen wie der Burka als Ganzkörperschleier für Frauen, das Kopftuch oder die schwarze Abaya, die von vielen Frauen in arabischen Ländern getragen wird. Es sind Opferkleider – geopfert wird das ungezwungene Verhalten.
Je stärker sich eine Gemeinschaft von anderen Gemeinschaften absondern möchte, umso mehr Vorschriften wird sie entwickeln und deren Durchsetzung per Gehorsam erzwingen. Meist gibt es für den Gehorsam als Ausgleich Heilsversprechen, ewiges Leben und Gemeinschaftsgefühle, also immaterielle Werte, die zu versprechen wenig kostet.
Die Steigerung dieses Prinzips findet sich bei den radikaleren Sekten. Wer einer solchen Gemeinschaft beitreten will, muss sich von allen irdischen Gütern trennen, indem er sie der Gemeinschaft „spendet“. Nach diesem radikalen Opfer gibt es fast kein Zurück mehr, da man keinerlei materielle Basis mehr besitzt. Jetzt muss man den Regeln der Gemeinschaft gehorchen, um zu überleben. Wer nicht gehorcht, wird bestraft zum Beispiel mit Einschüchterung, körperlicher Züchtigung, Psychoterror, Exkommunikation oder Tod. Wer schnell wieder etwas opfert, also der Gemeinschaft gibt, darf dabeibleiben. Die meisten opfern ihre Freiheit.
Wer sich entschließt auszusteigen, fällt in einen Abgrund des Alleinseins, der Hilflosigkeit. Zum Glück gibt es in Deutschland Hilfe für Aussteiger. Ob das ehemalige Nazis, Scientologen oder Mitglieder von Opus Dei sind, für sie gibt es Ansprechpartner wie für andere Suchtkranke.
Was bedeuten diese Überlegungen für Gemeinschaften?
Sprengt den Zusammenhang von Gehorsam, Opfer und Bestrafung. Hört auf, irgendwelche Versprechungen für den Tag X zu machen. Das Paradies oder die ideale kommunistische Gesellschaft sind nur unterschiedliche Wörter für dieselbe Worthülse.
Gemeinschaften, die auf Freiwilligkeit, Individualität, Offenheit und Interesse an anderen Gemeinschaften setzen, haben in einer modernen Gesellschaft bessere Chancen.
Hausaufgabe: Stellen sie zusammen, an welchen Gemeinschaften sie teilhaben und was sie dafür opfern müssen. Könnten sie jederzeit ohne Probleme aussteigen? Was würde ihnen der Ausstieg kosten? Wären sie dazu bereit?
Roland Schutzbach
3. Oktober 2012, 23:32 Uhr
Ich sehe Gemeinschaft nicht so negativ. Es gibt sehr freie Gemeinschaften, ich habe sie erlebt und erlebe sie. Ich halte mich nur in Gemeinschaften auf, die Spass machen und keine Opfer verlangen…