Wenn ich mich in fremden Ländern aus beruflichen oder privaten Gründen aufhielt, habe ich es tunlichst vermieden, über Politik und Religion zu reden. Und war ich in Saudi-Arabien, dann sprach ich auch nicht viel über Frauen und über Sex schon gar nicht. Wenn ich es genau betrachte, dann habe ich das hier – also in Deutschland – in der Öffentlichkeit und damit im Internet auch nicht viel anders gehandhabt.
Doch die letzten Wochen und Monate haben in mir Zweifel wachsen lassen. Meine Zurückhaltung kam mir feige vor. Zugleich entstanden Fragen wie: Und wer will das wissen, was du dir da denkst? Gibt es nicht schon genug Meinungskundgeber im Netz, in Zeitungen und Zeitschriften und natürlich auch in schlauen Büchern? Kommt es da auf meine kleine Stimme überhaupt an? Könnte ich überhaupt bestehen im riesigen Konzert der profunden Analysen, der geschliffenen Formulierungen, der klugen Erläuterungen?
Wäre es nicht klüger, bescheiden den Mund zu halten, sich seinen Teil zu denken und gelegentlich unter Freunden zu jammern über den Werteverfall der Welt im Ganzen und speziell über die eigene Hilflosigkeit?
Ich habe mich jetzt entschlossen, diese Frage mit „nein“ zu beantworten. Es ist nicht klüger zu schweigen, es ist dümmer. Ja, es birgt Risiken. Vielleicht mag ein Kunde meine Meinung nicht und entzieht mir einen Auftrag. Vielleicht wendet sich ein Bekannter (oder gar ein Freund?) von mir, weil er nicht mit mir übereinstimmt.
Aber vielleicht geht es auch gut aus. Vielleicht redet mit mir jemand, der das gelesen hat. Miteinander reden halte ich für etwas Positives. Miteinander zu streiten, gefällt mir auch; gegeneinander zu streiten weniger. Aber auch das wäre immerhin noch eine Form der sozialen Beziehung, wenn auch eine betrübliche.
Diese Art der verbalen Sachklärung und Meinungskundgabe wird „Disput“ genannt. Die sprachliche Herkunft dieses Wortes ist das lateinische Verb „disputare“ und bezeichnete Vorgänge wie erörtern, auseinander setzen, diskutieren, für und wider sprechen, untersuchen.
Ich finde das spannend. Für und wider etwas zu sprechen heißt ja nicht, dass nur der eine dafür und der andere dagegen spricht. Man könnte miteinander nachdenken, sich den Sachverhalt genau anschauen, Bezüge herausfinden, Konsequenzen abschätzen, Widersprüche aufdecken, Stimmigkeiten herausstellen, Varianten finden, Optionen entwickeln, zugrundeliegende Werte sichtbar machen, Einseitigkeiten verdeutlichen, einen praktischen Nutzen ableiten und was dergleichen aufregende Möglichkeiten noch sind.
Ein solcher Disput wäre eine Untersuchung, die nicht Sieger und Gegner kennt, sondern Menschen, die sich im freien Gedankenraum begegnen, einen Sachverhalt ausloten und dann geläutert, bestätigt, verunsichert oder was auch immer wieder da heraus gehen in ihren Alltag.
Der Disput als geistiger Garten Eden?
Wenn es doch bloß so einfach wäre. Ein solcher Disput ist bereits ein Gegenprogramm gegen Ideologie, missionarischen Eifer, gegen Sturheit und Bockbeinigkeit, gegen Besserwisserei und Bevormundung. Er ist eine politische Handlung, obwohl man doch bloß miteinander nachdenken wollte.
In diesem Sinne möchte ich politisch sein. Ich werde diesen meinen Blog nutzen, einen Disput mit mir selbst zu führen – in der Hoffnung, ein klein wenig dazu beizutragen, den Disput wieder als eine Kommunikationsform zu etablieren, die gegen Verhärtung, Vereinseitigung, Indoktrination mutig antritt.