Wer die Zeitungen in Saudi-Arabien oder der Golfregion aufmerksam liest, wird immer wieder zu einem bestimmten Thema fündig: Wie wird es in dieser Region gesellschaftlich weitergehen? Die Antworten sind alles andere als einhellig, doch eines eint sie trotzdem: die Ratlosigkeit, wie die Werte der Tradition mit der sich global empfindenden und vernetzten Jugend in Übereinstimmung gebracht werden können.

Ich habe in den letzten Jahren insbesondere Saudi-Arabien kennengelernt. Es ist das konservativste der arabischen Länder. Zwar gibt es auch dort eine deutlich zu beobachtende Wandlung und eine gewisse Öffnung. Doch niemand kann zurzeit sagen, was in den nächsten Jahren geschehen wird, denn die treibende liberale Kraft ist der alte und leider kranke König Abdullah. Sein ebenfalls betagter Nachfolger gilt als konservativ. Wird er die zaghaften Reformversuche des Königs beenden oder gar zurücknehmen?

Andrerseits wird Saudi-Arabien alles tun, um zur Stabilität in der Region beizutragen. Die Saudis können und wollen es sich nicht leisten, die heiligen Stätten des Islam, Mekka und Medina, aufs Spiel zu setzen. Sie empfinden sich als Vorbild für alle Muslime dieser Welt – kein kleines Vorhaben, wenn man bedenkt, dass auch die Muslime keine geschlossene Gruppe sind. Neben den großen Strömungen gibt es hunderte von Abspaltungen, die zwischen sehr offen und liberal und auf der anderen Seite totalitär und extremistisch auftreten.

Der Gegenpol dazu ist Dubai. Es ist als Teil der Vereinigten Arabischen Emirate durchaus ein arabisches Land. Doch das öffentliche, alltägliche Leben wird nicht von den Arabern geprägt, sondern von den Menschen, die aus aller Welt hierher kommen. Sie sprechen nur in wenigen Fällen Arabisch. Dagegen hat sich ein Englisch-Mischmasch herausgebildet, der wahrscheinlich jeden englischen Muttersprachler graust. Aber er ermöglicht eine ziemlich unkomplizierte Kommunikation in diesem Land. Englisch ist Standard.

Dass die Araber aber die Macher und Entscheider in diesem Land sind, dürfte genauso unbestritten sein. Wer wirklich große Geschäfte machen will, hat mit Arabisch bessere Chancen. Wer aufmerksam durch die Malls und Hotels geht, sieht viele traditionell gekleidete Araber und ihre ebenso traditionell gekleideten Frauen, also mit der schwarzen Abaya und dem Kopftuch und zum Teil auch verschleiertem Gesicht.

Alles Offizielle trägt den arabischen Stempel, die Hinweise auf dezente und angemessene Kleidung sind nur ein Beispiel. Aber in Dubai gibt es diese Parallelität von Vorschrift und Alltag. Etwas wie Bekleidung wird geregelt, aber nicht durchgesetzt. Ich weiß noch nicht, ob sich dieses Beispiel verallgemeinern lässt. Aber wenn ich auf die Meinungen der Menschen höre, mit denen ich hier zu tun habe, so deutet manches darauf hin. Dubai versteht sich als liberales arabisches Land.

Die anderen arabischen Golfstaaten versuchen, sich zwischen Dubai und Saudi-Arabien einzufügen und ihre eigene Identität zu finden. Das ist nicht immer einfach, denn natürlich nimmt man auch in dieser Region wahr, was sich in anderen arabischen Staaten abspielt. Der sogenannte Arabische Frühling hat die Regierungen der Golfstaaten bewogen, über bessere Gehälter und finanzielle Vergünstigungen Ruhe im Land zu bewahren. Das ist ihnen bislang recht gut gelungen.

Doch es gibt eine Unwägbarkeit, die in der Region sehr ernst genommen wird: die Jugend. Am 1. Juni 2012 erschien in den Golf News, einer führenden Zeitung dieser Region, auf Seite 21 ein Artikel mit der Überschrift: „A disconnect with tradition – internet is changing the behaviour and lifestyles of the new generation in Gulf, and putting them into conflict with their parents“. Darin wird beschrieben und auch zaghaft beklagt, dass sich die jungen Menschen von den traditionellen Werten und in gewisser Weise auch von der arabischen Sprache abwenden, um eine globale Identität zu leben. Dabei werde ein exzessiver Individualismus praktiziert, der sich von den Verbindungen zu Familie, Stamm und Nation entferne. Dabei werde die westliche Lebensart nachgeäfft, statt an einer neuen arabischen Identität zu arbeiten.

Man mag das so oder anders beurteilen. Fakt jedoch ist, dass die Bevölkerung der Golfregion von 39 Millionen Menschen im Jahr 2008 auf etwa 53 Millionen im Jahr 2020 anwachsen wird. Dann werden jedoch über 50 Prozent davon Menschen sein, die jünger als 25 Jahre sind.

Diese jungen Menschen sind mit Internet, Smartphones und internationaler Vernetzung aufgewachsen. Ihre Eltern dürften tendenziell nicht zu denjenigen gehören, die nur ansatzweise in derselben Intensität diese technischen Möglichkeiten nutzen. Sie werden mit Befremden und Erschrecken feststellen – und tun das bereits heute –, dass sie die Werte und Verhaltensweisen ihrer Kinder nicht mehr verstehen. Die Generationen entfremden sich voneinander, wahrscheinlich weit mehr, als das in Mitteleuropa und Deutschland geschehen mag.

Die Autorin des Artikels in den Gulf News, Jumana al Tamimi, hegt die Hoffnung, dass sich die traditionellen Werte um Familie und Stammeszugehörigkeit tief im Herzen der jungen Menschen bewahren. Wird sie Recht behalten?

Ich selbst hoffe, dass diese Region nicht den chinesischen Weg geht: den der radikalen Verleugnung des eigenen traditionellen Erbes, seiner Geschichte und Verbundenheit mit seiner Herkunft. In China wird so rücksichtslos modernisiert, umgebaut und entwickelt, dass weder die Menschen noch Natur und Landschaft einen Wert haben. Das große Ziel ist allein, wieder zu einem Weltreich der Mitte zu werden, das international erst genommen und durchaus auch gefürchtet wird.

Einige arabische Länder gehören zu den reichsten dieser Welt. Sie werden mit darüber entscheiden, wie sich diese Region langfristig entwickelt. Doch was werden sie mit den Petrodollars finanzieren? Rennstrecken für die Formel 1, Wolkenkratzer, urbane Prestigeobjekte wie riesige Flughäfen, Palmeninseln oder exklusivste Wohnanlagen? Oder werden Bildung und Ausbildung eine zentrale Rolle spielen? Und wenn ja, an welchen Bildungsinhalten und Ausbildungsformen wird man sich orientieren? Wie entschlossen werden die Regierungen auf die jungen Menschen zugehen, wie klug und weitsichtig wird man dabei vorgehen – oder setzt man auf Machterhalt wie in den Ländern, die heute um neue Formen der Demokratie kämpfen?

Die Unsicherheiten wachsen, wenn man bedenkt, dass Nachbarstaaten wie Israel, Iran und in gewisser Weise auch Syrien diese Region ernsthaft destabilisieren könnten. Es wird die Klugheit mancher arabischer Regierungen bedürfen, mäßigend einzuwirken, falls das überhaupt möglich ist. Denn zumindest Iran und Israel werden nicht als Teil der arabischen Welt angesehen. Iran ist persisch und hat damit völlig andere Wurzeln – und Israel spielt als jüdischer Staat eine Sonderrolle, die sich historisch erklären lässt, aber deshalb auch nicht einfacher wird.

Die jungen Menschen in den arabischen Ländern werden ihre Identität finden müssen. Dazu werden vermutlich auch Experimente, Einseitigkeiten und Sonderwege gehören, die nicht allen gefallen. Aber die Extreme gehören zur Normalität dazu. Sie sind für die Identitätsfindung zwingend notwendig. Ich hoffe, dass dabei fundamentale Werte wie Frieden, Respekt und Wertschätzung für das Andere und Offenheit Bestand haben.