Es ist schon ein magischer Vorgang, dass so etwas Immaterielles wie Worte und Sprache Regierungen erschrecken und zu Handlungen bewegen können. Aber fangen wir ruhig etwas allgemeiner an.

Mit dem Blick des Kommunikationstrainers wohnt der „Beleidigung“ ein interessanter Zauber inne. Wann ist etwas eine Beleidigung? Machen wir doch gleich den Selbstversuch. Wenn mir einer sagt: „Bernd, du bist ein blöder Hund“, hat er mich dann beleidigt?

Aber sicher, denn ich werde in meiner Empörung vielleicht erwidern: „Das ist ja wohl die Höhe! Wie kommst du darauf, mir so etwas Freches zu sagen? Das lasse ich mir nicht bieten.“ Mein Puls steigt, das Adrenalin schießt ins Blut, der Atem geht schneller und stoßweise. Wenn der Druck in mir groß genug ist, stoße ich noch zwischen engen Lippen hervor: „Selber blöder Hund.“

Verwandeln wir das Szenario. Wieder höre ich den Satz mit dem Hund. Jetzt aber antworte ich: „Unabhängig von der Frage, ob du vielleicht im Biologieunterricht nicht aufgepasst hast und deshalb auch die Gattungsunterschiede zwischen Mensch und Hund nur ungenügend verstanden und sicher gar nicht behalten hast, würde ich dir gerne die Frage stellen, an welche Hunderasse denkst du denn? Dann würde ich gerne wissen, wie du die Intelligenz von Hunden bestimmst, um ‚blöde’ Hunde genauer charakterisieren zu können. Wenn du mir das beantwortet hast, hätte ich noch ein paar vertiefende Fragen.“

Dritte Variante: „Bernd, du bist ein blöder Hund.“ – „Ach?“

Variante vier – aber jetzt bin ich ein Ausländer, der noch nie in seinem Leben einen deutschen Satz gehört hat. Er schaut ratlos und wird dann in seiner Sprache wahrscheinlich antworten: „Ja, ja.“ usw.

Fünfte Variante: „Bernd, du bist ein blöder Hund.“ – „Ja.“ Und so weiter.

Kommen wir zurück zur Ausgangsfrage: Wann ist etwas eine Beleidigung? Antwort: Dann, wenn ich als ein Beleidigter regiere.

Wenn ich ganz entspannt biologische Bestimmungsfragen thematisiere oder gar die Sprache nicht verstehe, dann ist „Bernd, du bist ein blöder Hund.“ nur ein beliebiger Satz oder sogar nur ein Geräusch.

Eine Beleidigung wird erst durch eine ganz spezifische Reaktion des sich angesprochen Fühlenden eine Beleidigung. Wann reagiere ich beleidigt? Wenn mein Selbstwertgefühl klein und dürftig ist, wenn ich Angst habe, wenn ich mich unter Druck und unsicher fühle. Wenn ich weiß, dass der andere Recht hat. Außerdem noch ein paar Gründe mehr.

Jetzt zu den Diktatoren und Diktaturen. Drei Bandmitglieder von Pussy Riot wurden am 17.8.2012 zu zwei Jahren Straflager verurteilt, weil sie Herrn Putin und die orthodoxe Kirche bzw. deren Anhänger beleidigt hätten. Warum war es eine Beleidigung? Siehe oben.

Variante zwei: Herr Putin sagt zu den drei Mädels: „He ihr Gören, euren spätpubertären Quatsch könnt ihr lassen. Er beeindruckt mich nicht besonders.“ Dann schickt er sie zurück an den Herd.

Variante drei: Er reagiert gar nicht. Er ignoriert total. Frei nach dem Motto: „War da was? Ich habe nichts gehört.“

Aber das hat er alles nicht gemacht. Warum? Weil er in Wahrheit schwach ist? Mit dem Urteil hat er die Aktion der drei Frauen überhaupt erst zu dem gemacht, was – wenn überhaupt – etwas Verurteilenswertes werden konnte. Vorher waren die 30 bis 40 Sekunden einfach nur eine ziemlich undifferenzierte Aktion. Aber der ganze Vorgang hat die drei Frauen zu Sozialhelden geadelt, macht sie geschichtlich wichtig, lässt Millionen von Menschen darüber schreiben und sprechen, veranlasst Politiker zu Statements und Appellen. Wer von diesen allen hat jemals nur einen Takt der Musik von Pussy Riots gehört? Ich nicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich deren Musik interessant finden würde – oder vielleicht auch nur etwas undifferenziert.

Herr Putin und seine Helfer haben sich als Schwache geoutet, indem sie Stärke zeigen. Ein wunderbares Paradox.

Hausaufgabe: Du bittest einen guten Freund, dich zu beleidigen. Also es zu versuchen. Aus Experimentiergründen antwortest Du gemäß Variante eins (siehe oben).

Danach spielst du mindestes drei weitere Varianten durch, die dir verdeutlichen, wie eine angstfreie, lockere Antwort wirken könnte. Suche dir einen ruhigen Platz und sinne über deine Erfahrungen nach.

Es gibt noch mehr Staaten auf dieser Welt, die mit ihren Stärkedemonstrationen namens Zensur nichts anderes beweisen als ihre Angst vor der eigenen Bevölkerung, vor den Menschen, die sich des Wortes bedienen und der Sprache.