„Du Opfer!“ Das hat ein Jugendlicher einem anderen Jugendlichen gesagt, und es lag darin keine Empathie, kein Mitgefühl. Es klang verächtlich. Doch wer ist es, der einen anderen Menschen ein „Opfer“ nennt? Ist es der Täter? Der Vollstrecker? Der Bösewicht? Das ist die eine Seite, wenn wir von Opfern sprechen, aber die meine ich nicht. – Auch weiß ich, dass Menschen Opfer von Verbrechen werden, doch davon will ich auch nicht schreiben, denn ich wünsche niemandem, dass er so etwas erlebt. – Doch warum machen sich heute immer mehr Menschen selbst zum Opfer?
Das Opfer ist unschuldig – im wörtlichen Sinne. Es hat keine Schuld. Schuld hat nur der andere. Der böse andere. Der, der mich zum Opfer machte, indem er mich missachtete, mich böse behandelte, mir Dinge versagte, Leistungen vorenthielt. Selbstverständlich berechtigte Leistungen; Leistungen die mir als Opfer zustehen. Auf die ich ein Recht habe.
In dem Augenblick, wo ich selbst das Gefühl habe – es muss nicht einmal eine Erkenntnis sein, ein Gefühl reicht aus –, dass ich irgendetwas entbehre, was mir eigentlich zustünde, ist es um mich geschehen.
Es gab mal eine gesellschaftliche Haltung, die sagte sich: Es gibt etwas, das hätte ich gerne. Was kann ich selbst denn jetzt tun, damit ich es mir verschaffe? Also wie und was muss ich arbeiten, organisieren, in Gang setzen und so weiter, damit ich am Ende Geld oder Gelegenheit oder was auch immer habe, damit das Gewünschte zu mir kommt? „Jeder ist seines Glückes Schmied“, sagt der Volksmund. Er meint damit zweierlei: Glück kommt nicht von alleine, es ist kein Geschenk. Und zweitens musst du schon selbst etwas ins Feuer legen und es bearbeiten, damit am Ende ein Schmiedestück, also das Glück, entsteht. Schmieden ist eine anstrengende Tätigkeit. Sie will gelernt sein, man muss dafür hart arbeiten und auch mal in Kauf nehmen, dass ein Schmiedestück misslingt. Aber das macht nichts. Dann startet man halt einen neuen Schmiedeversuch. Das ist Glück.
Wer kein Glücksschmied sein will, aber trotzdem etwas erlangen möchte, was macht der? Der wird ein Opfer. Das ist attraktiv, denn das Opfer lebt unter dem Gesetz des minimalen Handelns und des maximalen Forderns.
Als Opfer muss man auch hart arbeiten, aber anders. Zu einem professionellen Opfer gehört die Inszenierung. Die Opfer-Inszenierung. Der Leidensblick ist wichtig, der Blick von unten nach oben. „Ich bin so schwach!“ ruft das Opfer. „Deshalb musst du, du böser Starker, mir sofort helfen!“ tönt es laut und fordernd. Die Forderung ist wichtig: Du MUSST mir helfen! Je mehr Geschrei, desto mehr Opfer.
Als Opfer will man seinen vermeintlich starken Mitmenschen kontrollieren und manipulieren. Man hat, so fühlt es das Opfer, ein volles Recht, den bösen anderen zum Handeln zu zwingen. Also zu dem, was man selbst will. Opfer-Diktatur.
Opfer-Inszenierungen fangen harmlos an. „Ich sag jetzt nichts mehr.“ Das hat jeder schon einmal gesagt. Kommunikationsverweigerung ist der Anfang des Opferdaseins. Der stumme Vorwurf, der hilflos-störrische Blick. Dieses Opfer ist sich sicher, dass der böse andere Mensch genau weiß, was man von ihm verlangen kann und muss. Aber der Böse verschanzt sich hinter seiner Widerborstigkeit. Dem Opfer ist alles klar, es versteht die Welt, es hat für alles eine Lösung: Du Böser musst endlich handeln. Wenn du das nicht einsiehst, dann ist bewiesen, dass du tatsächlich ein ganz Böser bist. Je böser der Böse, desto mehr Opfer, desto mehr moralischen Anspruch auf Hilfe hat das Opfer. Zumindest in seiner eigenen Vorstellung.
Ein lachendes Gesicht hat das Opfer nicht. Das Opferdasein beginnt mit seiner Freudlosigkeit, den verhärmten Zügen, den herabfallenden Mundwinkeln, dem stumpfen Blick, den hochgezogenen Schultern, dem gebeugten Gang. Das Federnde des Schrittes ist weg, das große Schlurfen hat begonnen. Die Stimme wird leiser und zaudernd, um dann weitgehend ganz zu verlöschen. „Es hat sowieso keinen Zweck“, murmelt das Opfer und verkriecht sich in seinem Selbstmitleid. Irgendwann endet das Verstummen, die herausgeschriene Forderung folgt nach. Dann bricht sich Wut und Aggression Bahn. Auch handgreiflich darf man dann werden oder Schlimmeres. Aber das Opfer fühlt sich grundsätzlich unschuldig – immer. Weil es leidet. Sein Leiden rechtfertigt seine aggressiven Handlungen. Verstummen und Herumschreien wechseln wie Wellen im Meer.
Opfer-Inszenierungen gibt es in Partnerschaften, in Familien, unter Arbeitskollegen, in kleinen Gruppen. Oder auch in ganzen Gesellschaften.
Am Wochenende (26. Mai 2018) marschierten 5000 Menschen durch Berlin und fühlten sich als Opfer. Sie schrien laut ihre Forderungen. Zum Beispiel die nach Bildung. Doch der, der das in eine Kamera hinein sagte, tat es in ungebildeter Sprache. Ein Widerspruch? Nein, denn er fühlte sich schrecklich benachteiligt. Er hat sich wohl niemals selbst um Bildung bemüht, aber er wusste genau, wer der Böse ist. Und „die“ Böse müsse weg oder was.
Das Opfer lebt in der Illusion, dass nur der besagte Böse verschwinden müsse, und alles wäre wieder gut. So gut, wie es einem Kind geht, das hingefallen ist und dessen Mutter oder Vater liebevoll aufs Knie pustet und damit den Schwerz wegpustet.
Das Opfer lebt davon, dass es immer einen Bösen gibt. Doch wenn der Böse weg ist, ist das Opfer mit verschwunden. Dann muss es wieder selbst sein Glück schmieden, was bekanntlich mühevoll ist.
Also hat das Opfer die widersprüchliche Sehnsucht, der Böse möge verschwinden und dann wieder doch nicht. Aber in unserer grobstofflichen Welt muss man sich entscheiden zwischen Handeln und mit Leidensmiene Abwarten. Wenn wir über Quantenzustände und Schrödingers Katze sprechen, ist das anders – aber das hat leider mit Bildung zu tun. Das professionelle Opfer will und wird sich nicht entscheiden, denn es weiß ja bereits alles. Damit beißt sich die Katze in den Schwanz, auch wenn sie Herrn Schrödingers Geist entsprungen ist.
Ein Opfer zu sein ist leicht. Aber das Gegenteil von Opfer ist nicht der Böse, sondern der, der handelt. Der selbst bereit ist, sich für etwas einzusetzen, sich für etwas zu begeistern, der Hand mit anlegt, der schmiedet und nicht fordert, der anpackt und nicht noch mehr fordert – und der deshalb keine Sündenböcke braucht.
P.S.: Womit bezahlt das Opfer eigentlich sein Opferdasein, was ist der Preis? Der Preis ist die eigene Zufriedenheit, die Lebenslust, die wie weggeblasen ist, die Freude und die Begeisterung. Das Opfer fühlt sich ausgebeutet, ausgequetscht, ausgebrannt. Opfermenschen spüren ganz genau, dass dieser Zustand nicht gesund ist. Aber er ist bequemer, als selbst zu handeln.