Im Europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf steht die größte Maschine der Welt, eingegraben unter der Grenze zwischen Schweiz und Frankreich. In 100 Meter Tiefe befindet sich ein Magnetring von genau 26 659 Metern Länge. In seinem Inneren verlaufen zwei Röhren, in denen Protonen auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden. An vier Stellen treffen sie sich. Was dann passiert, wird von riesigen Messgeräten aufgezeichnet und ausgewertet. Sein Name: LHC – Large Hadron Collider.

Muss man das sehen? Kann man das verstehen? Ist das wichtig? Braucht das irgendein Mensch? Ist das wirklich die 650 Millionen Euro wert, die das CERN im Jahr als Unterhaltskosten benötigt?

Ich muss gestehen, dass mich Elementarteilchen schon seit meiner Schulzeit interessieren. Diese kleinsten Bausteine der Materie wurden in den letzten Jahrzehnten sorgfältig erforscht. Das ursprünglich für unteilbar gehaltene Atom war nämlich spaltbar. Seine Elektronen, Protonen und Neutronen entdeckte man zuerst. Später kamen allerlei andere Miniteilchen dazu. Die Quarks sind vielleicht die berühmtesten.

Der Beschleunigerring LHC des CERN ist der bislang letzte und größte Schritt, um den Aufbau der Materie zu erforschen. Dabei ist die Frage, woraus Materie besteht, gleichzusetzen mit der Frage: Wie entstand unser Universum und warum ist es so, wie es ist?

Was kann man eigentlich bei einem Besuch im CERN sehen? Vielleicht fliegende Protonen oder schwarze Löcher? Meine Erwartungen waren hoch, ich wollte Sensationen. Zum Glück aber kam es anders.

Ich habe ein ganz klein wenig von der Luft erschnuppert, in der Forschung auf der Grenze stattfindet.

Beim CERN bemüht man sich sehr, den Besuchern das Unsichtbare zu erklären. Protonenkollisionen kann man nämlich mit dem normalen Auge nicht beobachten. Dafür sind sie einfach zu klein und viel zu schnell. 600 Millionen werden pro Sekunde auf die Reise im Beschleunigerring geschickt. 11000-mal pro Sekunde durcheilen sie ihn. Aber nur zwanzig von ihnen treffen sich in einem der Detektoren, also der Messgeräte. Eines von ihnen mit Namen ATLAS zeichnet auf, was dann passiert. Dafür werden – so ähnlich wie in einer Digitalkamera – Fotos gemacht. Allerdings 40 Millionen pro Sekunde. Diese Fotos werden mit Hilfe ausgeklügelter Computernetze analysiert. Alles, was uninteressant ist, wird sofort wieder gelöscht. 100 000 Fotos bleiben zurück. Und so geht es weiter. Am Ende sind es zwanzig Fotos, die wissenschaftlich von Interesse sein könnten. Pro Sekunde!

5000 Wissenschaftler arbeiten am CERN. Aber verbunden mit ihnen sind viele Wissenschaftler überall auf der Welt. Unter anderem auch Forscher vom Theoretisch-Physikalischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Sie alle haben nur ein Ziel: Zu verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Das CERN ist ein unpolitischer Ort. Wer hier forscht, fragt nicht nach Herkunft, Nationalität oder Religionszugehörigkeit. Hier geht es um Wissenschaft und Grundlagenforschung. Das verbindet die Menschen. In diesem Sinne ist das CERN ein Beitrag für den Frieden in Europa.

Technisch ist es das Aufregendste, was man zurzeit erleben kann. Denn um Forschung von dieser Qualität betreiben zu können, bedarf es vieler Erfindungen am Rande des gerade noch Machbaren. Das reinste Vakuum, die stärksten Magnetfelder, die heißesten Temperaturen, die größte Kälte: Die Reihe der Superlative ließe sich beliebig fortsetzen. Was immer hier erdacht und gebaut wird, ist einzigartig.

Manches davon findet sogar den Weg in unsere Alltagswelt. Als am CERN im März 1989 eine Möglichkeit entwickelt wurde, wie man Menschen an verschiedenen Orten unkompliziert elektronisch miteinander vernetzen kann, erahnte niemand die Folgen: das Internet. Das World Wide Web wurde hier entwickelt. Den ersten Internetserver kann man mit eigenen Augen in einem der Ausstellungsräume bestaunen. Was für Wissenschaftler geplant war, ist nur fünfundzwanzig Jahre später nicht mehr aus unserem Alltag wegzudenken.

Die Begeisterung für Physik und Grundlagenforschung kann man überall am CERN spüren. Der junge Mann, der mich und andere Besucher führte, war stolz auf all das, was er uns zeigte und erklärte. Er freute sich über unser Interesse und war geduldig bemüht, die komplizierten Prozesse im Innersten der Anlage zu erklären. Wer ein wenig Freude an diesen Dingen hat, lässt sich schnell anstecken.

Das CERN ist eine ziemlich reale Wunderwelt, wo Menschen, Technik und Natur sich treffen, um daraus Erkenntnisse, Wissen und Verständnis für unsere Welt zu gewinnen.

 

CERN - Modell des Beschleunigerrings

CERN – Modell des Beschleunigerrings

Die Erstveröffentlichung dieses Textes erfolgte in der Zeitschrift OSCAR am Freitag – Gotha im März 2014.