Das Verstehen ist gar nicht schwer. Man darf einfach nur nicht missverstehen. Damit das klappt, sollte man beim Verstehen sofort mitverstehen, was man alles hätte missverstehen können. Allerdings beginnt in diesem Augen- und Ohrenblick die Schwierigkeit: Woran erkenne ich, dass ich etwas verstanden und nicht etwa missverstanden habe?
Einschub: Missverstehen? Der Autor meint wohl eher Miss Verstehen, also wie Miss Germany. Wenn nicht, dann wäre das doch eine schöne Anregung für einen neuen Miss-Wettbewerb.
Aber der Reihe nach und jetzt ganz ernsthaft.
Ich höre oder lese einen Satz. Den will ich verstehen, denn ich gehe davon aus, dass er grundsätzlich verstehbar ist, also auch irgendwie mir etwas sagen oder erzählen soll/will/muss. Das, was mir als erstes in die Vorstellung rückt, könnte ja das Verstandene sein. Einfach deshalb, weil es als erstes kommt. Ich höre also den Satz und – zack! – der Sinn springt mir vors Auge wie ein Reh nachts auf der Straße vor mein Auto.
Meine Erfahrung aber gebietet Wachsamkeit. Es gibt kein Recht auf das erste Verstehen, alle anderen Verstehensvarianten sind noch genauso gültig, wenn auch latent und mir meist verborgen. Also sollte ich mir beim vorschnellen Verstehen Einhalt gebieten und checken, was es sonst noch so an Verstehensoptionen geben könnte. Danach überprüfe ich zügig durch Umgebungs- und Menschenbeobachtung, ob die verschiedenen Verstehensvarianten möglichweise in Widerspruch zu beobachtbaren Fakten stehen, wobei ich vorläufig annehme, dass Fakten auch solche sind (alternative Fakten?) und nicht nur meine Interpretationen, was ja in Wirklichkeit der Fall ist. Aber alles ist schon kompliziert genug, also gestatte ich mir die Vereinfachung, die in Wahrheit natürlich alles in Frage stellt.
Nachdem ich diese wechselseitigen Bezüge überprüft und alle Kombinationen innerlich durchgespielt habe, stellt sich das nächste Problem ein: Wie soll ich meine Ergebnisse bewerten? Welchen Maßstab zur Verstehensbeurteilung nehme ich und wenn einen, warum gerade diesen Maßstab? Woran erkenne ich, dass ich richtig verstehe, also verstehe – und nicht wieder missverstehe, wobei ich beim Missverstehen ja davon ausgehe, dass ich verstanden hätte und also ganz entspannt bleibe, aber der andere denkt, das sei nicht so und er könne das auch beurteilen, weil er wisse, wie ich hätte verstehen müssen, wenn ich wirklich verstanden hätte. Aber dieses mein sogenanntes und irrtümlich als Verstehen angenommenes Verstehen war gar kein Verstehen, sondern ein Missverstehen, jedenfalls aus seiner Sicht. Aber diese seine Sicht kenne ich ja nicht, sondern bestenfalls sein blöde schauendes Gesicht, oder jedenfalls ein Gesicht, das ich für blöde halte, weil ich ja noch davon ausgehe, dass ich selbstverständlich verstanden habe und nicht etwa nicht. Das ist genau der Fall, den ich oben bezüglich der Fakten mit „in Wahrheit“ gemeint habe. Dass ich das also alles bemerke und auch auflösen kann, ohne neuerdings Missverständnisse auszulösen oder Verständnisse und das alles gar nicht mehr unterscheiden kann, weil alles viel zu schnell und verworren ineinandergeschachtelt ist, das ist ziemlich unwahrscheinlich.
Das mit dem Verstehen kann man eigentlich gar nicht verstehen.
Ist doch klar, oder?
P.S.: Verstehen ist ein Spezialfall von Kommunikation, über den wir glücklich sein sollten. Es ist die Ausnahme.
P.P.S: Vielleicht ist das aber auch nur ein Missverstehen, das sich noch hinter einem Verstehen versteckt und also nur noch nicht aufgedeckt ist. Wenn man lange genug wartet, ist alles ein Missverstehen. – Verstehen Sie, Miss?