Sechzigtausend neue Bücher im Jahr, 1 Milliarde Internetseiten oder mehr, Zeitungen und Zeitschriften: Mal ehrlich, wer soll das alles lesen? Und wann?

Also ist es vernünftig auszuwählen. Aus diesem Grunde hießen die Buchhändler früher Sortimenter, weil sie aussortierten und nur das in ihren Laden stellten, was sie für lesenswert hielten. Betriebswirtschaftlich mag das nicht immer optimiert gewesen sein, aber es gab einer Buchhandlung Charakter.

Dem übergroßen Angebot steht dramatisch die eigene Lebenszeit im Weg. Machen wir mal eine optimistische Rechnung auf:

Wie lange wollen Sie leben? Achtzig Jahre? Das klingt gut. Sie werden schnell merken, dass es auf ein paar Jahre mehr oder weniger gar nicht ankommt. Wann haben Sie angefangen, bewusst Bücher zu lesen? Ich nenne das mal Literatur – und wenn Sie wollen, auch Fachliteratur, welches Fach es auch immer sei. Mit zwanzig Jahren? Ok, etwas früher. Seien wir großzügig: mit fünfzehn. Bleiben 65 Jahre aktive Lesenszeit.

Wie viele Bücher lesen Sie in der Woche? Ein, zwei oder drei? Zu viele? Eher 1 Buch im Monat? Oder zwei? Nehmen wir im Schnitt zwei. Bei zwölf Monaten im Jahr = 24 Bücher, runden wir optimistisch auf: 30.

Wenn Sie das 65 Jahre konsequent durchhalten, sind das 1950 Bücher pro Leben. Vielleicht. Ich tippe mal: Es sind weniger. Was meinen Sie? Wie ist es bei Ihnen? Mal ehrlich?

Oder lesen Sie ETWA überhaupt keine Bücher? Und wenn, dann nur im Urlaub?

Jetzt ahnen Sie das Problem: Das Leben ist zu kurz, viel zu kurz. Ich rede nicht von den Neuerscheinungen eines Jahres. Sie sind so zahlreich, dass wahrscheinlich schon die deutschsprachige Literatur eines Jahres sich nicht mehr von einem einzigen Leser erschließen ließe.

Suchen Sie sich deshalb einen guten Sortimenter Ihres Vertrauens, einen Lese-Freund, also einen, der vorsortiert und ihnen die Rosinen nennt. Der weiß, was für Sie gut ist. Was Sie brauchen. Und gehen Sie gleichzeitig mutig selbst auf Suche. Verlassen Sie die literarische Hauptstraße, erkunden Sie Nebenwege.

Catalin Dorian Florescu

Catalin Dorian Florescu

Einer von diesen Noch-zu-Entdeckenden war für mich Catalin Dorian Florescu: „Ein Roman ist eine Einladung an den Leser, sich selbst zu begegnen“, sagte er fast beiläufig, bevor er am 4. Januar in Gotha aus seinem Buch „Zaira“ vorlas. Welch eine Beglückung. Da schreibt ein Dichter klar, direkt, mit viel Herz und Sinnen. Ich rieche die Speisen der Köchin Zsuzsa, ich fühle die Menschen. Ich spüre die Enge oder Weite der Räume, in denen sie lieben, sterben, essen und lachen. Ich kenne Zaira wie eine Vertraute. Ich darf sie begleiten in ihrer rumänischen Heimat, ihr Heranwachsen, ihre Freundschaften, bei ihrem Puppenspiel, auf ihrem Weg nach Amerika und zurück. Ich leide mit ihr, so wie ich mit ihr auch die Erfolge feiere. Zaira, sie ist doch nur eine Romanfigur? Nein, wenn Catalin Dorian Florescu davon erzählt, wird ein Mensch in meinem Kopf geboren und findet sein Zuhause in meinem Herzen.

Zaira

Wenn ich „Zaira“ lese, vergesse ich, dass ich in meinem Leben vielleicht nur Zeit für 2000 Bücher habe.

Im Februar 2011 erscheint sein neuer Roman „Jacob beschließt zu lieben“. Ich werde ihn lesen, auch wenn ich dafür eines Tages dem Gevatter Sensenmann zwei zusätzliche Wochen abtrotzen muss.