Von der Lust zu kämpfen – von der Hoffnung zu siegen

Das Verlieren gehört nicht zum Plan. Nur das Siegen.

Der Plan lautet: Ich werde siegen. In Wahrheit ist der Plan eine Wette. Eine Wette auf die eigene Unbesiegbarkeit und auf die Schwäche des anderen. Ohne die gefühlte Gewissheit, diese Wette gewinnen zu können, sollte niemand beginnen zu kämpfen.

Wäre der Sieg ein planbares Resultat, brauchte es des Kämpfens nicht. Ein guter Sieger braucht einen guten Gegner. Fallobst bringt keine Lorbeeren. Das ist biologisch und kampftechnisch richtig.

Aber knackiges Obst erhöht das Risiko. Ein Sieg über einen Schwächling: keine Ehre, keine Anerkennung, kein Siegestaumel.

Zum Sieg gehört die harte Arbeit, das Gehen an die Grenze und ein Stück darüber hinaus. Nur wer sich schindet im Angesicht des Publikums, wer über sich selbst hinauswächst, wer aus dem Leben, dem Universum oder dem Nichts neue Kräfte abzweigen kann, um den unüberwindlich erscheinenden Gegner doch zu bezwingen, der wird zum Liebling der Massen. Dem fliegen die Herzen zu.

Wer den Gegner vom ersten Augenblick an durch Überlegenheit demütigt, verliert den Kampf, bevor er gesiegt hat. Der Sieg ist dann einer, der zu erwarten war, von dem jeder schon vorher wusste. Ein Pflichtsieg. Er ist fast so schlimm wie einer, der vorher verabredet wurde.

Zum Sieg gehört die Ankündigung: Ja, ich bin vorbereitet. Ja, ich habe hart trainiert. Ja, es ist mir schwergefallen. Ja, es ist die Chance meines Lebens. Ja, es kann ein großer Kampf werden. Ja, mein Gegner ist mir völlig egal. Ja, ich kann jeden besiegen – hier in Magdeburg, in Las Vegas, auf dem Mond. Er soll kommen und sich mir stellen. Soll nicht davonlaufen, wenn es ernst wird. Ich habe vor niemandem Angst. Ich siege – was sonst? Den Gegner vorher klein und lächerlich zu reden, ist peinlicher Dilettantismus.

Der andere redet genauso; ist auch unbesiegbar, auch vorbereitet. Er klappert und klimpert mit den Sätzen, spricht selbst oder lässt andere für sich sprechen. Manchmal schweigt er auch: aus Überlegenheit natürlich. Wenn Schweigen, dann aber bitte mit grimmigen Augen. Grimmig gucken beweist das Ernsthafte des Gegners. Man muss den Gegner groß machen, erfolgreich, fast unbesiegbar erscheinen lassen. Aber nur fast. Ein kleines Schlupfloch muss bleiben. Ein doppeltes, genaugenommen.

Jeder weiß: Einer wird siegen, der andere wird verlieren. Wer verliert, hat seinen Meister gefunden. Dass einer der Meister sein könnte, sollte vorher schon angedeutet werden. Das erspart nach dem Kampf das ratlose Stottern, wieso es diesmal nicht zum Sieg gereicht habe und so weiter.

Wer siegt, muss gegen den Zweitgrößten gesiegt haben. Aber das hatten wir schon.

Wer anfangs groß redet und im Kampf klein beigibt, entwertet sich selbst. Das Publikum will den Worten Taten folgen sehen. Ist das Tun beschränkt, dann wenigstens mit Herz gekämpft. Wer in aussichtsloser Lage nicht aufgibt, kann Herzenssieger werden, auch wenn das Endergebnis gegen ihn spricht.

Zum Kampf gehören Regeln und folglich der, der das Einhalten der Regeln überwacht und notfalls einfordert: der Schieds-Richter. Er hält über das Kampfgeschehen sein Gericht. Er braucht für sein Richten den Respekt der Kämpfer. Würden sie sich gegen ihn verbünden, hätte er vermutlich nicht nur keine Chance, sondern es würde auch das Kämpfen selbst zuschanden werden.

Der Schiedsrichter ist unangreifbar. Mit ihm wird nicht diskutiert. Er ist der einzige, der im Ring reden darf. Er befiehlt, die Kämpfer gehorchen. Wenn sie sich an die Regeln halten, können sie alles machen. Wenn sie sich nicht an die Regeln halten, ist der Kampf aus und verloren, ein Skandal oder peinlich.

Bevor der Schiedsrichter den Kampf freigibt, erinnert er an die Regeln. Zumindest an die wichtigsten. Und dass es ein fairer Kampf sein möge. Das hören die Kämpfer, die wenigsten nicken. Keiner sagt dazu ein Wort. Noch nie habe ich einen in diesem Augenblick diskutieren sehen. Keine Reaktion ist Einwilligung. Davon geht der Schiedsrichter aus und auch der Zuschauer. Wer jetzt neue Regeln fordern würde, käme zu spät.

Der Schiedsrichter hat nicht die Aufgabe, den Kampf zu verhindern: „Wollt ihr euch nicht doch wieder vertragen?“ wäre die falsche Frage. Weil Streit und Zerwürfnis nicht der Anlass für den Kampf sind. Es muss nichts Drittes mit dem Kampf geklärt werden. Es geht um den Sieg, der zwingend mit der Niederlage des anderen verheiratet ist. Siegen um des Siegens willen.

Nun gut, nicht immer. Manchmal hilft es, an das Siegen noch etwas anzukleben: Ehre ist immer gut. Rache ist sportlich minderwertig. Ein Sieg für die Mama ist herzig, fürs Vaterland nicht mehr zeitgemäß. Für die Nation zu siegen geht dagegen wieder. Oder für die Freunde, die Fans, die treuen Bewunderer. „Ich widme meinen Sieg meiner heimlichen Geliebten“, wird man dagegen wohl nicht hören. Auch Siege für den Lieblingshund, den Gartenzwerg oder den Opa hören sich nicht gut an. Siege gehören nur denen, die selbst im Leben über irgendetwas gesiegt haben. Den Sieg einem Looser zu widmen, geht gar nicht.

Vor dem Sieg muss gearbeitet werden. Das Maß für Arbeit beim Kämpfen ist der Schweiß, der zu fließen hat. Ohne Schweiß kein Preis, sagt der Volksmund. Und er hat sein gefühltes Recht.

Gute Arbeit ist an eine gewisse Zeit gekoppelt. Ein Lucky Punch in der ersten Runde nach zehn Sekunden ist etwas höchst Unglückliches. Es sei denn, er ist technisch perfekt. Perfektion verzeiht alles. Auch die Kürze des Kämpfens.

Aber um die perfekte Aktion erkennen zu können, bedarf es des Sachverstands. Wenn ich ihn selbst habe: wie schön. Mangelt es mir daran, brauche ich einen Übersetzer. Das kann der kenntnisreiche Freund genauso sein wie der Moderator oder Kommentator im Fernsehen, der mit Hilfe der Zeitlupenrückschau aus möglichst mehr als einer Perspektive den Beweis des Vollkommenen vorführt. Da sachunkundige Zuschauer solche Beweisführungen nicht sogleich würdigen können, werden die finalen Augenblicke immer wieder und wieder vorgeführt. Daran sich anschließende Ausrufe der Bewunderung und Klatschen in die Hände sind erwünscht und zeigen, dass das Verständnis erwacht ist: sozusagen schlagartig.

Auch wenn die Kämpfer umgeben sind von Trainern, Betreuern, Fans und Zuschauer: im Ring sei jeder allein. Sagen jedenfalls die Moderatoren.

Wer als Kämpfer glaubt, er könne sich der Moderatorenweisheit entziehen, hat schnell das Nachsehen. Der totale Tunnelblick wird gefordert, die konsequente Zielausrichtung. Siegen, einfach nur siegen. Wer das nicht kapiert, spürt sogleich den Schmerz. Lernen durch Schmerz ist zwar leider eine schnelle Lernmethode, kann aber als Erkenntnis auch zu spät kommen: nämlich erst nach dem Niederschlag.

Wer zum Kampf in den Ring steigt, sollte alle Sinne beisammen haben, um dann seinem Gegner erst die Sinne zu rauben und dann den Sieg. Aber man kann dem anderen auch den Siegeswillen nehmen, die Hoffnung auf die letzte Chance, auf das Glück. Das Aufgeben signalisiert, dass man am Ende ist, keine Idee mehr hat, kein Entweichen mehr für möglich hält. Oder dass der Schmerz zu groß ist, dass man ernsthafte Beschädigung seines Kampfkörpers fürchtet.

Das ist der große Moment des Schiedsrichters. Sein Eingreifen ist endgültig. Wenn er den Kampf beendet, wird er nie mehr wieder aufgenommen. Es kann ein vorschnelles Urteil sein, ein unnötiges, ungerechtes. Egal. Das Handeln des Schiedsrichters sei ein klares Ja Ja und ein klares Nein Nein. Ein Abbruch ist das Ende – unerbittlich. Alles andere würde das Richterdasein erschüttern, nein verdampfen, auflösen, verflüchtigen. Ein solch wankelmütiger, zweifelnder und sich korrigieren lassender Schiedsrichter würde nicht nur sich selbst demontieren, sondern auch den Kampf und das Kämpfen insgesamt.

Wer kämpft, wettet mit sich selbst, dass er es durchhält bis zum Sieg. Wer vorher schon für sich weiß: „Drei Runden, dann steige ich aus“, ist ein doppelter Verlierer. Der Verlust des eigenen Wertgefühls wiegt dabei am schwersten.

Verlieren gegen einen Besseren ist ehrenvoll. Verlieren gegen einen Schlechten, das ist ehrlos. Ein großer Sieg braucht zwei großartige Kämpfer. Er adelt beide, auch den Besiegten.

Wer in den Ring steigt, will mehr als den Sieg. Er will den eindeutigen, den klaren, den unbestrittenen Sieg. Ein großer Sieg für einen strahlenden Sieger. Ein Sieg, den man erst noch erklären muss, ist wertlos.

Mehr als der Sieg ist die Aussicht auf Sieg. Gibt es keine würdigen Gegner mehr, degeneriert das Kämpfen. Der Dominator ist beliebt, wenn er eine Welt retten kann. Dominiert er seine Gegner immer und überall, wettet er nicht mehr für sich, sondern gegen die Langeweile. Diese Wette ist keine wirkliche Wette, denn die Langeweile siegt immer.

Einen Kampf, der langweilt, braucht niemand: keiner der Kämpfer, kein einziger Zuschauer.

Kämpfen ist eine Daseinsweise. Nicht geht es um Sieg oder Niederlage. Es geht einzig und allein darum, aus sich heraus über sich selbst hinauszuwachsen.

Doch Vorsicht: Wenn ich der Größte bin, kann ich nur noch kleiner werden.