Eine 82-jährige Dame besucht für ein paar Stunden Taiwan. Daraufhin erhebt sich ein Sturm der Entrüstung in Festland-China. Seestreitkräfte halten ein Manöver ab, Flugzeuge schießen mit scharfer Munition, Raketen steigen auf – für viele Millionen Dollar wird ein Theater aufgeführt, das wiederum international Stellungnahmen, Kommentare oder sonst welche Reaktionen auslöst.

Wie schaffte es diese 82-jährige Dame, eine solche Flut an Reaktionen auszulösen? Nur weil es Nancy Pelosi war, Sprecherin des Repräsentantenhauses der Vereinigten Staaten?

Nein. China fühlte sich beleidigt und in seinen Interessen nicht ernst genommen.

Aber warum eigentlich? Warum hat das mächtige China – das ist es wirklich – nicht einfach asiatisch-lächelnd diesen Besuch ignoriert? Dann hätte es keine Stellungnahmen gegeben, sondern Schweigen in der Medienwelt. Nach 1 Tag wäre der Besuch der alten Dame vergessen gewesen. Aber so ging das Beben um die Welt – und China hat, ohne dass es das wollte, bewiesen, wie ärmlich und schwach sein Selbstwertgefühl ist. Eine alte Dame fordert die Weltmacht heraus durch einen Besuch. Eigentlich ist es zum Lachen.

Natürlich weiß ich, dass dahinter die Geschichte von dem einen China steht, also der Doktrin, dass das abtrünnige und deshalb böse Taiwan eigentlich zum chinesischen Reich gehört. Wer das anzweifelt oder gar belächelt, ist Chinas Feind. Wer also China etwas provozieren will, sagt das Wort „Taiwan“ oder auch „Tibet“, „Uiguren“, „Dalai Lama“ oder sonst eines der vielen Tabuwörter.

Aber mal ehrlich, bin ich für die internen Geschichten Chinas zuständig? Muss ich mir jeden Schuh anziehen, den man mir vor die Nase hält? Warum werden meine eigenen Geschichten über die Welt nicht genauso ernst genommen?

„Weil du etwas machst, bin ich jetzt beleidigt.“ Das Beispiel China ist eines auf der Weltbühne, aber ich kann bis in den billigen Alltag hinein dieses Prinzip wiedererkennen. Ich messe und bewerte die Handlungen anderer Menschen an meinen eigenen Geschichten, also an meinen Überzeugungen und Werten. Es sind meine eigenen, nicht die, die miteinander verhandelt wurden. Der andere hatte weder Möglichkeiten der Mitsprache noch der Selbstdarstellung oder was auch immer an kommunikativen Formen sich denken ließe.

Oder die Mohammed-Karikaturen: Kann man den Propheten tatsächlich mit einer Zeichnung beleidigen? Wie schwach muss der Glaube an den Propheten sein, wenn eine Zeichnung ausreicht, mein Selbstverständnis bezüglich meiner eigenen Wertvorstellungen zu beeinträchtigen?

Doch warum ist dieses „Sich-beleidigt-fühlen“ so attraktiv?

Sich beleidigt zu fühlen hat etwas mit Kontrolle und Macht über andere zu tun. Mein Beleidigtsein rechtfertigt, ja legitimiert jede meiner Gegenreaktionen. Es ist ein Freibrief für alles. Es ist besonders wirkungsvoll, wenn man es mit moralischen Urteilen und dem Erzeugen von schlechtem Gewissen verknüpfen kann. Jüngstes Beispiel: Dreadlocks eines Schweizer Musikers führten dazu, dass der Auftritt seiner Band abgesagt wurde. Häää?

Die Musikszene lebt von Austausch, nicht von Abgrenzung. Tablas, Bongos, Gitarren usw. dürfen von allen Menschen genutzt werden. Barockmusik dürfen nicht nur Mitteleuropäer spielen, sondern alle, die es wollen – na gut, schön wäre es, wenn sie es auch können. Aber selbst das ist egal. Wenn sie damit auftreten und alle gehen weg, ist das das Problem der Musiker, nicht der Barockmusik.

Stopp. Nur der Musiker? Nein, natürlich nicht. Auch der Musikerinnen und der Diversen und der Schwulen, Queeren, Lesben, Grünäugigen, Gestreiftfarbigen, Schuhgröße-56-Tragenden.

Nochmal Stopp. Lieber Autor, willst du dich gerade über jemanden lustig machen oder gar übers Gendern?

Nein und ja. Ja in der Hinsicht, dass ich nicht bereit bin, mir die Betroffenheitsgeschichten anderer Menschen zu eigen zu machen, ohne mit ihnen etwas zu tun gehabt zu haben. Ich werde nicht an meinen Handlungen gemessen, sondern am (schwachen) Selbstverständnis des anderen.

Wenn es mir heute gelingt, mich in irgendeiner Weise einer sogenannten Minderheit zuzuordnen, habe ich plötzlich Privilegien, die ich sofort lautstark einfordere. Wenn ich nicht bekomme, was ich will: zack, schlechtes Gewissen machen. Mindestens.

Doch so geht das nicht.

Eine funktionierende Gemeinschaft bildet sich nicht durch diese Art der verdeckten Machtausübung, die auch zur Tyrannei werden kann. Gemeinschaft lebt von Begegnungen, Mitmachen, Selbermachen, Ausprobieren, Verhandeln, Falschmachen, Verwerfen, noch einmal probieren, etwas anders machen, es übernehmen, Neues entdecken, gemeinsames Weiterentwickeln und so in dieser Richtung. Das ist Teilhabe. Das macht man zusammen, hat daran Spaß und lernt sich und die anderen neu und fröhlich kennen und erkennen. Manchmal mag man sich danach, manchmal nicht. Das ist normal.

Das Gegenprogramm zu Teilhabe: Grenzen ziehen, verbieten, ablehnen, Vorschriften machen – und wenn es sein muss, mit Gewalt. Das darf ich nämlich. Schließlich hast du mich beleidigt.

Fazit: Ich reagiere schnell und trotzig, wenn man mir mit fremden Geschichten ein schlechtes Gewissen machen will. Ich will an meinen Handlungen gemessen werden, nicht an Allgemeinplätzen. Für mein Verhalten übernehme ich Verantwortung – aber wer mir etwas verbieten will, muss damit rechnen, dass ich bockig werde, manchmal sogar kindisch-pubertär. Aber auch das ertrage ich entspannt.