Als am 11. Oktober 2012 verkündet wurde, wer den diesjährigen Nobelpreis für Literatur erhält, waren die Reaktionen in den Kultredaktionen deutscher Zeitungen größtenteils ratlos. Mo Yan, wer ist das? Folglich war es leicht, die Vergabe an den chinesischen Schriftsteller sogleich politisch zu nutzen. Mo Yan sei zu regierungstreu, hieß es schnell. Das war abwertend gemeint und sollte auch seine literarischen Qualitäten herabsetzen.

Wer die Werke Mo Yans liest, und dazu hat man in Deutschland allerbeste Gelegenheit, darf mit Fug und Recht sagen: Ja, diesem Mann ist der Preis zu gönnen. Ja, er hat ihn verdient mit einer schriftstellerischen Leistung, die internationales Niveau hat.

Diese Leistung wird noch deutlicher, wenn wir auf die chinesische Literatur schauen, die zumindest in deutscher Sprache vorliegt. Sie ist geprägt von Erinnerungsbüchern, die Familienschicksale oder Einzelmenschen in den schwierigen Zeiten der Kulturrevolution zeigen oder auch danach. Wir können als Leser an manchem Leid und den kleinen Freuden teilnehmen, die mithalfen, den Lebensmut nicht zu verlieren. Das ist alles sehr bewegend, erhellend und verschafft manche Einsichten in die chinesische Alltagskultur. Aber es bleibt literarisch oft nur ein Einzelwerk, das formal und sprachlich kaum Neuland betritt.

Mo Yan ist von Anfang an anders. Die Frage, ob seine Geschichten die seines Lebens sind oder nicht, stellt sich kaum. Sie funktionieren ohne den biographischen Bezug. Der Roman „Das rote Kornfeld“ war sein erstes Buch, das 1993 in Deutsch erschien. Es war so erfolgreich, dass es sogar eine Verfilmung gab. Doch eine bestens erzählte Geschichte rechtfertigt noch keinen Nobelpreis.

Mit „Die Schnapsstadt“ beginnt Mo Yan, auch formal zu experimentieren. Abgesehen davon ist das ein so ungemein zynisches Buch, dass man manchmal geradezu fassungslos ist. Raffiniert fragt es von der ersten bis zur letzten Seite, was den Wert eines Menschen ausmacht, was ihm Individualität gibt und damit Lebensrecht.

Diese Frage nach der Individualität wird im „Der Überdruss“, das 2009 auf der Frankfurter Buchmesse von Mo Yan selbst vorgestellt wurde, noch gesteigert. Auf über 800 Seiten entwirft er einen Lebensbogen, der den Helden der Geschichte durch zahlreiche tierische Inkarnationen begleitet. Formal könnte man dieses Prinzip Perspektivenwechsel nennen. Das Leseerlebnis ist aber ungleich intensiver. Man schlüpft geradezu in die Seele des Esels, des Hundes oder des Ebers. Wieder fragt sich Mo Yan: Und was ist das Eigentliche des Menschen?

Parallel dazu erschien „Die Sandelholzstrafe“ 2009 bei Suhrkamp. Wieder wird der Leser genötigt, mit verschiedenen Augen auf ein dramatisches Geschehen zu sehen. Immer wieder muss man umdenken, Stellung beziehen oder sich empören, so man es denn will. Denn die Sandelholzstrafe ist eine der perfidesten Arten, jemanden in den Tod zu befördern, ausgeführt mit der Präzision eines Hochleistungstechnikers. Mo Yan führt uns so dicht an die Gefühle und Gedanken seiner Figuren heran, dass es schmerzt.

Auf dem Schutzumschlag dieses Buches wird der japanische Schriftsteller Kenzaburo Oe zitiert: „Wenn ich einen Nobelpreisträger küren dürfte, dann wäre es Mo Yan.“ Jetzt ist es soweit – und wir dürfen einem großen Schriftsteller gratulieren, der in der Öffentlichkeit ein Musterbeispiel von Bescheidenheit und Zurücknahme ist. Die Selbstdarstellung ist nicht seine Sache. Er zeigte sich bei seiner Buchpräsentation 2009 in Frankfurt am Main als ein Mensch, der schreiben will, weil er ganz viel zu erzählen weiß.

 

Der Artikel wurde veröffentlicht in der Deutsch-Chinesischen Allgemeinen Zeitung, Nr. 17/November 2012, Seite 15.