Die Ausstellung „Körperwelten“ in Leipzig öffnet den Blick in die Wunderwelt des physischen Körpers
200 Millionen Liter Blut fließen im Laufe eines 75-jährigen Lebens durch das Herz. Was für eine gewaltige Leistung, wenn man mit den Augen eines Ingenieurs schaut. Ein künstliches Herz muss in der Regel nach zwei Jahren ausgetauscht werden, weil es zu große Abnutzungserscheinungen zeigt. Wer sein lebendiges Herz einigermaßen pfleglich behandelt, hat so etwas wie eine lebenslange Nutzungsgarantie.
Was wissen wir wirklich über unser Herz, das mehr oder weniger zuverlässig in unserer Brust schlägt? Wie sieht es aus? Wie ist es gebaut? Wie hängt es mit anderen Organen zusammen? Wo kommt das Blut her, das das Herz selbst benötigt, um arbeiten zu können? Wer gibt ihm den Rhythmus vor? Warum schlägt es schneller, wenn man eine Treppe heraufspringt? Oder einen geliebten Menschen sieht? Oder in ein Examen geht?
Bis zum Besuch der Ausstellung „Körperwelten“ des Anatomen Gunther von Hagens in Leipzig habe ich mir diese Fragen nicht im Ernst gestellt. Überhaupt möchte ich gestehen, dass ich nicht mit reinem Gewissen in diese Präsentation gegangen bin. Wollte ich mir wirklich plastinierte Leichen anschauen? Brauche ich das, und wenn ja, für was?
Herausgegangen bin ich als ein Verwandelter. Tief bewegt vom Wunder des Lebens, von der Weisheit des physischen Körpers, der bis in seine allerfeinsten Verästelungen Erstaunliches zu bieten hat. Ich habe nicht „Leichen“ gesehen, sondern Mahnungen und Ermunterungen an mich selbst, das zu achten, was mir bloß etwas Selbstverständliches ist: meinen Körper.
Wer die „Körperwelten“ betritt, betritt in der Tat eine neue Welt: seine Innenwelt. Von der Haut überzogen und geschützt, bleiben mir im Alltag Muskeln, Sehnen und Organe verborgen. Gunther von Hagens bietet mit seinen Plastinaten einen geführten und gestalteten Blick ins Körperinnere.
Die Technik der Plastination von Lebewesen hat von Hagens vor dreißig Jahren erfunden, indem er in einem bestimmten Verfahren dem Leichnam Wasser und wasserlösliche Fette entzieht und durch Kunststoffe und Kunstharze ersetzt. Strukturen und Farben der Gewebe bleiben dabei erhalten und sind geruchslos. Die Art, wie das anatomische Präparat dann gezeigt wird, entscheidet der Plastinator. Von Hagens selbst beruft sich bei seiner Arbeit auf die anatomischen Bilder der Renaissance, die die menschlichen Leichname in lebendiger Pose und meist in natürlicher Umgebung zeigten.
Ich habe mir in der Leipziger Ausstellung viel Zeit gelassen. Vom ersten Moment an spürte ich, mit wie viel Ernst hier vom Wunder des Lebens berichtet wird. Hatte ich mir je Gedanken gemacht, was passiert, wenn nur die Blutgefäße des Körpers gezeigt werden? Wenn man alle Adern, Äderchen und Kapillaren aneinanderreiht, ergibt sich eine Strecke von rund 96.000 Km. Offenbar besteht der lebendige Körper fast nur aus Gefäßen. Keine Kapillare ist mehr als 1/200 Millimeter von der anderen entfernt. Wenn das nicht ein Wunder ist.
Wie aber pflegen wir unseren Kreislauforganismus? Wir lassen Adern zuwuchern, weil wir zu fett essen, rauchen und uns viel zu wenig bewegen. Die menschliche Anatomie ist dafür ausgelegt, täglich zwanzig Kilometer zu gehen. Der Durchschnitt liegt bei 500 Metern. Das Fett, das sich um unsere Hüften legt, ist dabei nur die eine Seite. Der ganze innere Bauchraum ist vollgefüllt mit weiterem Fett, das alle Organe umschließt und bedrängt. Die Ausstellung zeigt das in beängstigender Klarheit.
Dass Raucherlungen rund eine Tasse Teer enthalten, weiß heute jeder. Dass Raucherlungen tatsächlich schwarz sind, ist auch bekannt. Dass aber ein Embryo mit 12 Wochen schon alle Züge eines Menschen trägt, also eine kleine Individualität ist, der Leben abzusprechen vorsätzliche Verfälschung bedeutet, das machen wir uns nicht wirklich klar.
Diese Ausstellung ist eine Mahnung, das Wunder des Leibes zu achten und zu bewahren.