Meine prophetischen Fähigkeiten sind dürftig, weshalb ich es unterlasse, ernsthaft Hypothesen über die Zukunft zu bilden, die den Charakter von Vorhersage haben könnten. Das Folgende sind nur private Überlegungen, die für mich zumindest als Möglichkeit Bestand haben können.

Ja, irgendwie hadern die Zeitungsverleger mit dem Druck auf Papier. Zu aufwendig, deshalb zu teuer – und Zeitungen werden nur von „alten“ Menschen gelesen. Die jungen Menschen haben ein Smartphone. Das stimmt alles irgendwie. Aber!

Die gedruckte Zeitung hat unschätzbare Vorteile für das Leben in einer Gemeinschaft. Kennen Sie die liebgewonnenen Gewohnheiten? Morgens der Gang zum Briefkasten, Zeitung entnehmen, zum Frühstückstisch gehen … und dann startet das Ritual wie an jedem Tag: Ich bekomme den Lokalteil, mein Partner fängt mit der Politik an und irgendjemand aus der Familie hat ein Anrecht auf das Kreuzworträtsel. Drei Menschen, eine Zeitung; danach rotiert sie. Am Ende haben alle alles gelesen und der eine wusste auch noch das fehlende Wort. Bis zum Abend liegt die Zeitung auf einem festen Platz. Wer später noch darin blättern mag, hat dazu Gelegenheit. „Ich schneide mir hier den Artikel aus, ist das ok?“ Gerne, aber erst am Abend.

Eine elektronische Ausgabe schafft andere soziale Bezüge oder gar keine. Ein Smartphone ist eine einsame Angelegenheit. Niemals schauen zwei Menschen gleichzeitig darin etwas an – außer, dass man Fotos schnell mal in der Runde vorzeigt. Zeitungs-Sharing, also das gleichzeige Lesen der Zeitung von mehreren Personen, geht gar nicht. Es sei denn, man hat mehrere Zugangsmöglichkeiten, kann also mit 1 Passwort auf verschiedenen Geräten die Seite mit der Zeitung öffnen. Es bleibt trotzdem einsam.

Der Lesevorgang selbst ist auch komplett anders. Das Auge überfliegt die gedruckte Ausgabe. Es bleibt hängen an Bildern, Stichworten, Überschriften oder an der Werbung. Texte werden überflogen oder Satz für Satz gelesen. Man kann leicht vorspringen oder den Artikel wechseln. Auch scheinbar weniger Interessantes gerät in den Blick, wird angelesen, übersprungen oder doch ganz gelesen. Das läuft alles ziemlich unbewusst ab und ist individuell sehr unterschiedlich.

Lesen am Bildschirm funktioniert ganz anders. Die großen Nachrichtenportale wie Spiegel online, Focus oder BILD machen es vor: Bild + Textteaser. Wer mehr lesen will, muss auf „weiter“ oder „mehr“ klicken. Überall gibt es Links auf verwandte Themen, andere Nachrichten, Filme oder Bildergalerien. Wer nicht genau weiß, was er will, gerät in einen merkwürdigen Fluss, der ihn stetig weiterträgt. Irgendwohin.

Die gedruckte Zeitung beobachtet nicht, was ich lese oder was nicht. Sie ist neutral. Am Ende des Tages wird sie in die Altpapiertonne geworfen und ist vergessen. Die Onlinezeitung weiß dagegen alles über mich: Welchen Artikel ich lese und wie lange, was ich danach lese und welche Themen mich interessieren. Im Hintergrund kann das ausgewertet und mit anderen im Internet gesammelten Daten verknüpft werde, um daraus individuelle Leseangeboten zu erstellen. Ich bekomme nun das angeboten, was mich schon immer interessiert hat – die Überraschung bleibt aus oder wird in bestimmten Prozentsätzen hinzugemischt – damit ich nicht gleich bemerke, wie kalkuliert das alles abläuft.

Ich will nicht bewerten, was besser oder schlechter ist – es sind erst einmal Unterschiede. Sie erzeugen andere soziale Formen, anderes Lese- und Verstehensverhalten. Zurzeit läuft vieles parallel, ich kann wählen, wenn ich das will: morgens die Zeitung, später das Onlineangebot am Computer und zwischendurch Nachrichtenlesen am Handy.

Wie geht es in der Zukunft weiter? Ein paar Fantasien:

  • Alles bleibt, wie es ist, weil Verleger und Leser hoffen, dass die Digitalisierung über sie hinwegziehen wird. Einschätzung: unwahrscheinlich.
  • Alle Inhalte stehen nur noch online zur Verfügung. Keine gedruckte Zeitung mehr. Für junge Menschen ist das ok, sie haben nie eine Zeitung abonniert, sondern ihre Eltern. Diese steigen aber nur zum kleinen Teil auf Onlineangebote um. Die Frage, wie man Menschen dazu bringt, für Onlineinhalte Geld auszugeben, treibt zurzeit alle um. Viele Varianten funktionieren nicht, wenige sind erfolgreich. Warum?
  • Der Druck der Zeitung erfolgt dezentral, nämlich beim Leser. Ein abgespeckter A3-Drucker wird vom Zeitungshaus dem Abonnenten gestellt. Wenn er morgens aufsteht, hat der Drucker gedruckt. Die Einzelblätter (Vorder- und Rückseite) liegen lesebereit. Natürlich gibt es die Ausgabe auch online.
  • Der Druck der Ausgabe erfolgt beim Zeitungshändler über seinen vernetzten A3-Kopierer. Dann holt man sich die Zeitung dort ab. Oder er organisiert selbst einen Zustelldienst, zum Beispiel zusammen mit dem Bäcker, der die Brötchen ausliefert.
  • Das Verlagshaus stellt ein einfaches Tablett zur Verfügung. Gegen Aufpreis ist es größer oder leistungsfähiger. Die Leseapp ist vorinstalliert.
  • Die Verlagshäuser machen Nachrichtenportale nur noch, um ihre anderen Aktivitäten zu vermarkten. Im Grunde sind sie Werbung für Veranstaltungen und Events aller Art, gemischt mit dem, was Menschen gerne lesen: Klatsch, Tratsch, Sex and Crime. Komplexe Inhalte finden andernorts statt.
  • Verlagshäuser bieten parallel diverse Onlinekanäle an, die alle miteinander verknüpft sind: News-Portal, Blog, Video, Sound, Facebook, Twitter usw. Bezahlt werden sie durch Werbung. Vielleicht erfinden sie auch noch neue Formen, die man irgendwie bezahlt. Und sei es mit seinen Daten.

Aber was wirklich kommt – ich weiß es nicht. Noch genieße ich die raschelnde Zeitung am Morgen.