Singen Sie? Singen Sie manchmal Lieder? Vielleicht Volkslieder? Nur allein im Bad? Oder mit anderen zusammen? Mit anderen aus Ihrem Volk? Weil es ja Volks-Lieder sind? Oder graust es Ihnen bei der Vorstellung, Volkslieder zu singen, weil Sie sich an Völkisches erinnern, was sich nicht schön anfühlt? Oder an DDR-Singeclubs und Pfadfinderlagerfeuersingereien? Egal, es gibt eine Alternative, eine ganz kluge und höchst unterhaltsame.

 

Beim Theater- und Kulturverein art der stadt e.V. in Gotha haben sich fünf junge Menschen zusammengefunden. Sie machen, so nennen sie es selbst, Musikkabarett mit dem Titel „und alle! man muss es dur mollen“. Das klingt schon mal leicht schräg und verspricht Vages.

Constantin von Thun

Doch dann legen die fünf Sängerinnen und Sänger, Musikerinnen und Musiker, Schauspielrinnen und Schauspieler los. Jeder ist alles und gleich etwas anderes. Knallbunte Anzüge, extreme Aktionen, viel Überzeichnetes – und im tiefsten Inneren immer ernsthaft, ehrlich, reflektiert und unglaublich gekonnt.

Die fünf fragen sich einen ganzen amüsanten Abend lang: Was können wir eigentlich guten Gewissens singen? Welche Lieder sind nicht durch die Zeitgeschichte verunstaltet? Welche Texte treffen auch heute noch ein Gefühl, das aus der Gegenwart stammt und nicht aus Vergangenem? Wie weit müssen wir in der Musikgeschichte zurückgehen, um unbekümmertes Musikland zu erreichen?

Titus Offhaus

Ach ja, diese Fragen klingen akademisch. Aber ehrlich: Wann haben Sie in letzter Zeit mit Freunden zusammen Volkslieder gesungen? „Wir sind das Volk“, schreien seit einiger Zeit aufgewiegelte Unzufriedene – aber wie merkwürdig, Volkslieder singen die nicht. Die schreien bloß. Ist das symptomatisch? Sagt das was über die „Volk“-Schreier?

Doch wer singt denn noch? Fünf Menschen im „fundament“, der Spielstätte vom art der stadt e.V. Sie tun es so witzig, so reflektiert und zugleich so unglaublich unbekümmert. Sie brauchen nicht viel Animation, um das Publikum zum Mitsingen zu veranlassen. Es geschieht ganz selbstverständlich, ganz heiter und spaßig, wie nebenbei. Zur Unterstützung gibt es auch die Texte, nachzulesen auf langem Papier, das hochgerollt wird und ein Lied nach dem anderen zeigt. Sehr hilfreich, denn strophensicher ist vermutlich kaum einer der Zuschauer.

Maya Grumptmann

Alle fünf sind auch bestimmte Typen, Schablonenmenschen mit komischen Macken und Gewohnheiten, mit Ritualen und Forderungen, zum Beispiel nach Geld. Ohne Geld keine Musikfortsetzung. Der Klavierspieler ist unerbittlich. Hat er Geld bekommen, spielt er so munter weiter wie zuvor. Zeitgeist halt.

Nils Weishaupt

Angenehm ist, dass alle diese Bezüge und Anspielungen, die kleinen Nebenhandlungen und untergründigen Anspielungen locker und selbstverständlich daherkommen. Man wird nicht missioniert und bevormundet: Die Gedanken sind frei. Wirklich. Auf der einen Seite macht es dem Publikum einfach Spaß, die Lieder mitzusingen. Auf einer der vielen anderen Seiten aber kann man staunen und lachen, sich wundern und verwundern, sich bestens unterhalten lassen, um gleich wieder nachdenklich sich selbst zu fragen: Und ich, wie sehe ich das alles mit dem Lied und dem Volkslied und dem Singen überhaupt?

Vinzenz Damm

Es fällt mir schwer, mit dem Schwärmen über diesen Abend aufzuhören. Aber es ist nicht allzu oft, dass ich mich frage: Warum um alles in der Welt wird so ein Abend nur im kleinen Gotha entwickelt und dann aufgeführt? „und alle!“ gehört auf jeden Fall in eine Hauptstadt, denn dort würde er mit seiner Lebendigkeit locker bestehen gegen all das Erklügelte und Gespreizte. Man müsste es dur mollen.

 

Mehr Fotos vom Musikkabarett gibt es auf meiner Facebookseite.

Das Ensemble „und alle!“