… oder warum ich meine Freunde vermisse

„Ich fliege demnächst wieder nach Saudi-Arabien.“ – „Ah, nach Dubai.“ – „Nein, nach Saudi-Arabien.“ – „Ja sag ich doch, Dubai, oder?“

Nein, Dubai ist nicht Saudi-Arabien. Genauso wenig wie Belgien Deutschland ist. Aber es liegt irgendwo in Arabien, in diesem geheimnisvollen Erdteil, über den wir alles zu wissen meinen und eigentlich fast nichts wirklich wissen.

Vielleicht hätte ich darum lieber mit der Judokämpferin Wodjan Ali Seraj Abdulrahim Shaherkani beginnen sollen. Sie stand bei den Olympischen Spielen im Brennpunkt der Journalisten, weil sie eine Frau ist. Die 16-jährige stammt aus Saudi-Arabien und ihr Vater verlangte, dass sie beim Wettkampf ein Kopftuch trägt. Man fand eine Lösung, was an der schnellen Niederlage der jungen Sportlerin nichts änderte.

Der Spiegel berichtete davon ausführlich am 3.8.2012 und schloss den Artikel mit einem Zitat der sonst als scheu charakterisierten Kämpferin: „Hoffentlich ist es der Beginn einer neuen Ära, hoffentlich werden andere Frauen mir nachfolgen.“

Diese Episode fasst typische Vorurteile zusammen: In Saudi-Arabien werden alle Frauen unterdrückt, die Männer bestimmen alles und gelegentlich gibt es ein schwaches Aufbegehren.

Als ich 2005 das erste Mal nach Riyadh flog, tat ich dies mit klopfendem Herzen. Ich war ahnungslos, voller Vorurteile – was sich leider nicht ausschließt – und glaubte den Hinweisen des Auswärtigen Amtes, das Verhaltensratschläge für dieses Land im Internet bereithält. Zum Beispiel, dass man niemals alleine in die Stadt gehen solle, sondern nur in arabischer Begleitung.

Saudi-Arabien ist anders: ein höchst interessantes Land mit vielen jungen Menschen. Über 50 Prozent der Bevölkerung sind unter 21 Jahre alt. Es hat eine funktionierende Verwaltung, ein Schulsystem und eine Krankenversorgung für alle. Die Infrastruktur funktioniert, die Straßen sind gut ausgebaut, die Städte modern, ohne dass die älteren Stadtteile besinnungslos abgerissen werden.

Die Sicherheit auf den Straßen und Promenaden ist mindestens so hoch wie in Deutschland. Vielleicht sogar höher, denn ein westlicher „Enthemmer“ spielt keine Rolle: der Alkohol. Ich liebe es, am Wochenende in Jeddah zur Corniche zu gehen. Über viele Kilometer ziehen sich Wege und Plätze am Meer entlang. Zigtausende Menschen halten sich dort auf, die Jugendlichen toben herum, fahren Fahrrad oder spielen Ball. Familien sitzen beieinander, kleinere Gruppen von Frauen oder Männer schlendern herum. Alles geht sehr friedlich zu. Es gibt keinerlei Pöbeleien oder andere unschöne Situationen. Eine Idylle? Nein, ganz normales Leben. „Unsere Jugendlichen sind gut erzogen“, sagte mir ein saudischer Freund.

Aber die Frauen, sie werden alle unterdrückt? Das Thema Frauen ist in der Tat heikel, denn in dieser Hinsicht ist in Saudi-Arabien manches im Umbruch. Auch wenn sich dieser viel langsamer und achtsamer vollzieht, als wir es uns Westler wünschen. Aber sind unsere Wünsche eigentlich der einzige gültige Maßstab?

Ich glaube, ich verstehe Saudi-Arabien inzwischen besser, weil ich es nicht verändern will. Ich akzeptiere die Kultur, die ich dort finde. Allerdings schaue ich dabei sehr genau hin. Manchmal entdecke ich dabei innere Widersprüche und warte dann gespannt, was sich tut.

Dieses arabische Land hat sich selbst eine Aufgabe gegeben: Es ist das moslemische Vorzeigeland. Der saudische König ist zugleich der Wächter über die beiden heiligen Stätten Mekka und Medina. Alle Muslime dieser Welt schauen bei ihren Gebeten jeden Tag auf diesen Ort. Das verpflichtet und gibt Saudi-Arabien eine Sonderrolle, die konsequent zu leben nicht einfach ist. Einerseits sieht man sich als Hüter der Religion und islamischen Tradition, andererseits lebt man dort nicht auf einer abgeschotteten Insel. Die Internet- und Smartphonenutzung ist aus dem Alltag nicht wegzudenken. Auf allen Kommunikationskanälen ist man aktiv, zwei Handys sind der Standard, besser sind drei.

Aber das Internet ist staatlich zensiert? Ja, das stimmt. Jedenfalls in gewisser Hinsicht. Weit sind Softwearelösungen verbreitet, die die staatliche Zensur aushebeln. Außerdem muss man nur Sky-Internet beantragen. Dann hat man ganz legal zwei Tage später eine Schüssel auf dem Hausdach und empfängt ein offenes Internet. Ganz Pfiffige arbeiten mit Proxyservern, deren Funktionsweise zu erklären ich mir hier erspare.

Ich habe noch niemals in einem Land so viele und so große Satellitenschüsseln auf den Dächern gesehen wie dort. Alles, was irgendwie vom Himmel strahlt, wird empfangen. Gecrackte Decoder zu erwerben ist kein wirkliches Problem. Jeder Saudi kann alles im Fernsehen sehen, was er sich wünscht. Das ist nicht völlig legal, aber es wird nicht verfolgt.

Warum? Weil es zu Hause stattfindet, in den eigenen vier Wänden. Dort, im Privaten, hält sich der Staat raus. Das ist ein unberührbarer Bereich. Dort herrschen die Frauen. Schon immer. Erst wenn es öffentlich wird, dominieren die Männer. Jedenfalls oft.

Das öffentliche Leben ist reglementiert. Wenn man dort die Regeln respektiert, lässt es sich in diesem Land einfach leben. Jedenfalls als Mann. Das bedeutet zum Beispiel: Fotografiere keine Frauen. Das ist unstatthaft. Doch mal ehrlich: Ist es nicht auch bei uns ein Gebot der Höflichkeit, Menschen um Erlaubnis zu bitten, wenn man sie fotografieren will?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es sich in Saudi-Arabien prima leben lässt. Im Alltag ist vieles sehr unkompliziert. Wenn ich entspannt durch die Altstadt von Jeddah schlendere, spielt die Geschlechtertrennung keine auffällige Rolle mehr. Alle wuseln durcheinander. Man ist höflich und korrekt zueinander. Einkaufen ist ein Genuss, weil man freundlich bedient wird. In den vielen kleinen Imbissstuben kann man herrlich für wenig Geld essen. Mit Englisch kommt man relativ einfach überall durch. Wenn der Taxifahrer mal kein Englisch versteht, kennt er zumindest einen, den er fragen kann. Inzwischen sage ich dann dem Taxifahrer in Jeddah, welchen Weg er zum Hotel nehmen muss.

Wenn ich es einrichten kann, treffe ich mich am Abend mit Freunden. Über Facebook sind wir immer ganz gut in Kontakt und wissen ungefähr, was der andere gerade macht. Steht eine Reise an, freue ich mich schon auf das Wiederbegegnen. Ich werde so herzlich empfangen, wie es mir kaum in meiner Familie geschieht.

Über all dieses Private habe ich die große Politik vergessen. Doch da halte ich mich raus – und zwar wie in jedem Land, in dem ich zu Gast bin. Umgekehrt erwarte ich es nämlich ebenso.

In den acht Jahren, die ich jetzt nach Saudi-Arabien fahre, hat sich viel verändert. Die Diskussionen über Fragen der Gesellschaft, des Zusammenlebens und der Zukunft werden in den englischsprachigen Zeitungen offen diskutiert. Man fürchtet sich genauso wie wir vor den radikalen Islamisten, gegen die in Saudi-Arabien konsequent ermittelt wird. Man fragt nach dem rechten Verhältnis zwischen Männern und Frauen und wie die Jugendlichen mit ihrem Blackberry umgehen sollen. Nein, nicht das Verbot der Geräte wird gefordert, sondern dass die Eltern den maßvollen Gebrauch zeigen und dazu anleiten. Finde ich gut.

Natürlich ist vieles trotzdem anders. Es gibt keine Kinos und Theater. Sport ist vergleichsweise unorganisiert. Allerdings ist Sport im Freien auch wirklich nicht einfach: Nach Sonnenuntergang sind immer noch 30 bis 35 Grad. Es gibt kaum öffentliche Verkehrsmittel, aber Tausende von Taxis, die vergleichsweise preisgünstig sind. Energiekosten sind zu vernachlässigen. Einmal volltanken kostet ungefähr 4,50 Euro. Steuern auf Lohn und Gehalt werden nicht erhoben. Brutto gleich netto. Schon ein wenig neidisch?

Die arabischen Länder sind familienorganisiert. Die familiären Netzwerke helfen, die passende Braut zu finden. Mit der Heirat besteht für den Mann mehr oder weniger die Pflicht, der Ehefrau ein eingerichtetes Haus, ein Auto und den angemessenen Lebensstandard zu bieten. Außerdem muss er der Braut ein Brautgeld zahlen, damit sie im Falle einer Scheidung nicht mittellos dasteht. Mancher junge Saudi nimmt dafür einen Kredit auf.

Über die Familie werden auch berufliche Laufbahnen geplant und realisiert. Das mag einerseits ganz gut sein, weil man mit solidarischen Partnern rechnen kann. Aber leider wird die Familienverbindung auch immer wieder mal über Kompetenz und Eignung gestellt. Habibi-business heißt das und wird inzwischen durchaus kritisch gesehen.

Lust auf Saudi-Arabien bekommen? Die schlechte Nachricht: Es gibt keine Touristenvisa. Es sei denn, man schließt sich einer der wenigen Reisegruppen an, die angeboten werden. Die Hoffnung: Ich glaube, dass es nur eine Frage der Zeit ist, dass sich Saudi-Arabien öffnet. „Macht langsam“, sage ich meinen saudischen Freunden, wenn wir über Veränderungen sprechen. „Verliert nicht die Wurzeln zu eurer Kultur.“ Ich genieße es, in ein Land zu fahren, in dem es anders zugeht als in dem Land, aus dem ich komme.

„Love the differences“ – liebe die Unterschiede – ist meine Botschaft. Differenzen auszuhalten und sich zu ihnen zu bekennen, ist nicht immer einfach, aber sehr spannend und manchmal auch ein wenig aufregend.

 

P.S.: Leider ist mein Projekt „Seminare in Saudi-Arabien“ seit Ende 2012 abgeschlossen. Jetzt suche ich neue Geschäftspartner, die Seminare eines deutschen Trainers in Saudi-Arabien oder einem anderen arabischen Land anbieten wollen. Vielleicht hat man ja Interesse an meinen acht Jahren Erfahrung auf der arabischen Halbinsel.