Die technischen Möglichkeiten der modernen Welt liebe ich. Ich gehöre zu den Erstnutzern von Bürocomputern, habe keine Angst vor Bits und Bytes, fotografiere selbstverständlich digital und bewege mich im Web 2.0 entspannt, regelmäßig und erfolgreich. Als die Cloud kam, wurde ich wach: Das will ich auch. Auf alles von überall immer zugreifen können. Geil.
Ich begann, meinen Computer zu entschlacken. Alle Dateien, an denen ich arbeitete, verlagerte ich auf ein virtuelles Laufwerk im Netz. Archive wanderten in virtuelle Ablagesysteme. Programme liefen, wenn irgend möglich, nur noch im Browser als Internetanwendung. Das meiste war umsonst, gelegentlich gab es geringe Kosten. Eine rasend schnelle Internetverbindung verwandelte mein kleines Büro in eine global vernetzte Schaltzentrale. Mein Schreibtisch war aufgeräumt, keine Festplatten standen mehr im Weg – wie herrlich war das Leben mit der Cloud.
Sie ahnen etwas? Geben Sie es zu. Idylle macht misstrauisch, oder?
Ja, heute morgen hat es mich erwischt. Computer anschalten, Emails abrufen, Browser starten: Das geht automatisch, ist bloße Routine.
Aber heute nicht. „Die Webseite kann nicht angezeigt werden.“
Noch einmal von vorne. Computer neu starten, wahrscheinlich irgend so ein kleines Problemchen. Kann ja vorkommen, oder? „Die Webseite kann nicht angezeigt werden.“
In meinem Bauch zieht es sich zusammen, die Hände werden schlagartig kalt. Ich erinnere mich an meine Zusage, bis Mittag einen längeren Text fertig gestellt und ihn zusammen mit einer Bildauswahl an den Kunden versendet zu haben. Der Text ist fast fertig – aber er liegt in der Cloud. Die Fotos muss ich noch auswählen, sie liegen sicher in der Cloud.
Wer hat mir die Cloud geklaut? „Die Webseite kann nicht angezeigt werden.“
Schon steht mir der Angstschweiß auf der Stirn. Panik krallt mich, das Herz rast, was sollte es auch sonst tun. „Die Webseite kann nicht angezeigt werden.“
Nein!!! Ich will das nicht mehr sehen! Ich will wieder mein Internet haben. Gib mir meine Cloud wieder.
Einige Tage später: Den Kundenauftrag konnte ich mit Verspätung und durch die Hilfe eines Freundes mit einem Surfstick gerade noch erledigen.
Aber dann: Ich habe jetzt drei verschiedene Internetanbieter: Festnetz, Surfstick und Mobiltelefon. Außerdem habe ich mir vorsorglich ein Satellitentelefon bestellt, wenn alles Irdische versagen sollte. Ich habe ein zusätzliches Notebook und ein iPad. Außerdem verhandle ich mit zwei Internetanbietern aus USA und Asien, um von deutschen Anbietern unabhängig zu werden. Ich arbeite mit IT-Spezialisten zusammen, die mir eine technische Lösung schaffen sollen, alle Internetanbieter so zusammen zu schalten, dass beim Ausfall des einen ohne Unterbrechung der nächste Anbieter genutzt werden kann und so weiter. Die Software dazu entwickelt ein Freund an der Universität, der das Thema in seine Promotionsarbeit einbauen kann. Wegen der Hardwarelösung verhandle ich mit einem großen IT-Unternehmen. In drei Jahren sollte es eine Lösung für mein Problem geben.
Dann brauche ich keine Angst mehr vor der Cloud zu haben.
P.S.: Fast hätte ich es vergessen, eine Kleinigkeit. Ich habe mir natürlich wieder eine große Festplatte gekauft und sofort alle meine Daten aus der Cloud darauf gesichert. Sicher ist sicher. Jetzt kann mich die Cloud gern haben.
P.P.S.: Vor wenigen Wochen hat uns Herr Mubarak vorgeführt, wie ein Diktator das Internet für sein Land abschaltet. Wenn ich Regierung wäre, würde ich Propaganda für die Cloud machen, die Kosten dafür subventionieren und Festplattensteuer erheben. Wenn (fast) alle Unternehmen und IT-Nutzer in der Cloud sind, hätte ich sie in der Hand: Entweder macht ihr, was ich will, oder ich schalte das Internet aus.
Vielleicht sollte ich mich doch um eine Stelle als Diktator bewerben.